Die Raufasertapete ist ein typisch deutsches Kulturgut. Um so überraschender ist es, dass die Entwicklung der Raufaser eng mit Revolution, künstlerischer Avantgarde und fundamentaler Gesellschaftskritik verbunden ist. Heute ist sie in den Wohnungen und Büros so allgegenwärtig, dass sie kaum noch in Frage gestellt, geschweige denn, überhaupt als Design wahrgenommen wird. Und doch verkörpert die Raufaser idealtypisch den Schritt vom Handwerk zum industriellen Serienprodukt, vom Luxus- zum Alltagsgegenstand. Denn jahrhundertelang verzierten feinste und edelste Wandbehänge aus Seide, Brokat und Samt, die bis in die Neuzeit den reichen Fürsten vorbehalten waren, die Mauern der Burgen und Schlösser. Dank der Globalisierung kamen chinesische Papiertapeten im späten 16. Jahrhundert als billigere, aber immer noch teure, Handelswaren nach Europa. Aber erst 200 Jahre später, 1789, zeitgleich mit dem Beginn der französischen Revolution, nahm nicht nur die bürgerliche, sondern auch die technische Entwicklung so viel Fahrt auf, dass in Kassel die erste größere Tapetendruckerei gegründet werden konnte. 50 Jahre später ist die Tapete ein industrielles Serienprodukt mit hohen Auflagen und niedrigen Preisen. Und doch fehlen noch ein paar Schritte, um auch zur Massenware zu werden: Die Druckwalzen werden zum Beispiel noch von kunsthandwerklichen Formstechern ausgearbeitet. Das dauert lange und ist nicht flexibel. Der Wuppertaler Apotheker Hugo Erfurt erfand 1864 die Raufasertapete. Es ist ein Schichtwerk aus drei Lagen Papier, in die grobe Holzfasern eingearbeitet sind. Sie geben dem Papier die plastische Struktur. Hugo Erfurts Großvater war schon Papiermacher und hatte 1827 sein eigenes Unternehmen gegründet. Aber die Zeit war noch nicht reif für die Raufaser: Sie wurde anfangs nicht als Tapete genutzt, sondern als Dekorationspapier für Schaufenster. Es brauchte noch die künstlerische Avantgarde eines Le Corbusier und die Reformbewegung des Bauhauses. In den Zwanziger Jahren fegten sie den wilhelminischen Pomp beiseite und propagierten weiße Wände für sachliche Möbel als Gegenentwurf zu den pathetisch dunklen, vollgestellten Innenräumen. Es dauerte dann aber noch einmal zwei Generationen, bis die Raufasertapete ihren Siegeszug in den deutschen Wohnzimmern antrat: Die 68er entdeckten sie als unangepasste Ästhetik, die sich gegen Gemütlichkeit und den Mief der Aufbaujahre richtete. Tapete war spießig. Heute führen fertig bedruckte Tapete und halbfertige Raufaser, die erst durchs Kleben auf die Wand und Bestreichen zum fertigen Produkt wird, eine einträchtige Existenz nebeneinander. Die Firma Erfurt und Sohn ist bei beidem Weltmarktführer. Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [191]
Die Raufasertapete ist ein typisch deutsches Kulturgut. Um so überraschender ist es, dass die Entwicklung der Raufaser eng mit Revolution, künstlerischer Avantgarde und fundamentaler Gesellschaftskritik verbunden ist. Heute ist sie in den Wohnungen und Büros so allgegenwärtig, dass sie kaum noch in Frage gestellt, geschweige denn, überhaupt als Design wahrgenommen wird. Und doch verkörpert die Raufaser idealtypisch den Schritt vom Handwerk zum industriellen Serienprodukt, vom Luxus- zum Alltagsgegenstand. Denn jahrhundertelang verzierten feinste und edelste Wandbehänge aus Seide, Brokat und Samt, die bis in die Neuzeit den reichen Fürsten vorbehalten waren, die Mauern der Burgen und Schlösser. Dank der Globalisierung kamen chinesische Papiertapeten im späten 16. Jahrhundert als billigere, aber immer noch teure, Handelswaren nach Europa. Aber erst 200 Jahre später, 1789, zeitgleich mit dem Beginn der französischen Revolution, nahm nicht nur die bürgerliche, sondern auch die technische Entwicklung so viel Fahrt auf, dass in Kassel die erste größere Tapetendruckerei gegründet werden konnte. 50 Jahre später ist die Tapete ein industrielles Serienprodukt mit hohen Auflagen und niedrigen Preisen. Und doch fehlen noch ein paar Schritte, um auch zur Massenware zu werden: Die Druckwalzen werden zum Beispiel noch von kunsthandwerklichen Formstechern ausgearbeitet. Das dauert lange und ist nicht flexibel. Der Wuppertaler Apotheker Hugo Erfurt erfand 1864 die Raufasertapete. Es ist ein Schichtwerk aus drei Lagen Papier, in die grobe Holzfasern eingearbeitet sind. Sie geben dem Papier die plastische Struktur. Hugo Erfurts Großvater war schon Papiermacher und hatte 1827 sein eigenes Unternehmen gegründet. Aber die Zeit war noch nicht reif für die Raufaser: Sie wurde anfangs nicht als Tapete genutzt, sondern als Dekorationspapier für Schaufenster. Es brauchte noch die künstlerische Avantgarde eines Le Corbusier und die Reformbewegung des Bauhauses. In den Zwanziger Jahren fegten sie den wilhelminischen Pomp beiseite und propagierten weiße Wände für sachliche Möbel als Gegenentwurf zu den pathetisch dunklen, vollgestellten Innenräumen. Es dauerte dann aber noch einmal zwei Generationen, bis die Raufasertapete ihren Siegeszug in den deutschen Wohnzimmern antrat: Die 68er entdeckten sie als unangepasste Ästhetik, die sich gegen Gemütlichkeit und den Mief der Aufbaujahre richtete. Tapete war spießig. Heute führen fertig bedruckte Tapete und halbfertige Raufaser, die erst durchs Kleben auf die Wand und Bestreichen zum fertigen Produkt wird, eine einträchtige Existenz nebeneinander. Die Firma Erfurt und Sohn ist bei beidem Weltmarktführer. Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.