Design ist ein Phänomen der Moderne, dessen Siegeszug in den 60er Jahren einsetzte. 15 Jahre nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hatten die Menschen den Hausrat für die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse wieder beisammen. Nun begann die Verfeinerung des alltäglichen Lebens auch der einfachen Leute mittels ausgefeilterer Produkte. Noch vor 40 Jahren war beispielsweise nur 1% aller Arbeiter-Haushalte in Deutschland mit einem Telefon ausgestattet. Das war damals, in den Sechziger Jahren, die niedrigste Quote in Europa. Die deutschen Arbeiter schätzten das Ferngespräch anscheinend weniger als den persönlichen Wortwechsel. Man könnte folgern, dass Körperhygiene dafür eine gewisse Voraussetzung ist: 55% der Arbeiterwohnungen verfügten damals über ein eigenes Badezimmer. Und in den meisten von ihnen hing ein Schränkchen von Allibert über dem Waschbecken. Eigentlich müsste man den Namen »Allibert« französisch aussprechen, denn es handelt sich hierbei um ein Kunststoff-Unternehmen, das 1930 in Monestier de Clermont gegründet wurde, etwa 30 Kilometer südlich von Grenoble, im Département Isère. Aber in deutschen Ohren würde das viel zu gestelzt klingen für so ein unbedingt praktisches Produkt, das nichts anderes sein will als es ist. Der Badezimmer-Spiegelschrank, den Allibert 1958 auf den Markt bringt, ist in jeder Hinsicht einfach. Sein Korpus besteht typischerweise aus weißem Kunststoff. Das ist leicht sauber zu halten, günstig in der Herstellung und fügt sich irgendwie in fast jede Badezimmereinrichtung ein. Die Front besteht aus Spiegeltürchen, die sich zur Seite schieben oder aufklappen lassen. Die Verspiegelung der Türen ist nicht nur praktisch, weil man damit über dem Waschbecken keinen separaten Spiegel benötigt. Sie erzeugt auch einen raumvergrößernden Effekt in der Nasszelle. Später erhielten die Schränke im Inneren noch Leuchten und Steckdosen. Mehr als 80 Millionen Exemplare wurden vom Allibert-Spiegelschrank in den vergangenen 50 Jahren verkauft. Um die tatsächliche Verbreitung einzuschätzen, muss man noch ein Vielfaches an Plagiaten hinzurechnen. Der Name Allibert bürgerte sich rasch ein als Inbegriff für die gesamte Produktgattung. Dessen ungeachtet hat er hat das Schicksal der meisten Alltagsprodukte aus Kunststoff erlitten: Er ist ein omnipräsenter und nützlicher Diener, aber keinesfalls ein geliebter Zeitgenosse in unserem Zuhause. Er vereint zwar viele Designtugenden, indem er praktische Funktionen für jedermann erschwinglich macht. Aber er vernachlässigt darüber die ästhetische und emotionale Dimension guten Designs. Deshalb haftete dem Allibert in den 80er Jahren der Ruf des Spießertums an, während andere stets präsente Objekte des Badezimmers – wie die Odolflasche, das Hansaplast-Heftpflaster oder der Braun-Rasierer – zu Kultobjekten avancierten. Der Architekt Adolf Loos, dessen Titel »Ornament und Verbrechen« zu einem Topos geworden ist, vermutete, dass man die Kultur eines Volkes an der Art seiner Waschgelegenheiten erkennt. Der Allibert im Badezimmer der Deutschen lässt – was seine kulturelle Leistung angeht – zumindest auf das Ordnungsbedürfnis seiner Besitzer schließen. Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [202]
Design ist ein Phänomen der Moderne, dessen Siegeszug in den 60er Jahren einsetzte. 15 Jahre nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hatten die Menschen den Hausrat für die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse wieder beisammen. Nun begann die Verfeinerung des alltäglichen Lebens auch der einfachen Leute mittels ausgefeilterer Produkte. Noch vor 40 Jahren war beispielsweise nur 1% aller Arbeiter-Haushalte in Deutschland mit einem Telefon ausgestattet. Das war damals, in den Sechziger Jahren, die niedrigste Quote in Europa. Die deutschen Arbeiter schätzten das Ferngespräch anscheinend weniger als den persönlichen Wortwechsel. Man könnte folgern, dass Körperhygiene dafür eine gewisse Voraussetzung ist: 55% der Arbeiterwohnungen verfügten damals über ein eigenes Badezimmer. Und in den meisten von ihnen hing ein Schränkchen von Allibert über dem Waschbecken. Eigentlich müsste man den Namen »Allibert« französisch aussprechen, denn es handelt sich hierbei um ein Kunststoff-Unternehmen, das 1930 in Monestier de Clermont gegründet wurde, etwa 30 Kilometer südlich von Grenoble, im Département Isère. Aber in deutschen Ohren würde das viel zu gestelzt klingen für so ein unbedingt praktisches Produkt, das nichts anderes sein will als es ist. Der Badezimmer-Spiegelschrank, den Allibert 1958 auf den Markt bringt, ist in jeder Hinsicht einfach. Sein Korpus besteht typischerweise aus weißem Kunststoff. Das ist leicht sauber zu halten, günstig in der Herstellung und fügt sich irgendwie in fast jede Badezimmereinrichtung ein. Die Front besteht aus Spiegeltürchen, die sich zur Seite schieben oder aufklappen lassen. Die Verspiegelung der Türen ist nicht nur praktisch, weil man damit über dem Waschbecken keinen separaten Spiegel benötigt. Sie erzeugt auch einen raumvergrößernden Effekt in der Nasszelle. Später erhielten die Schränke im Inneren noch Leuchten und Steckdosen. Mehr als 80 Millionen Exemplare wurden vom Allibert-Spiegelschrank in den vergangenen 50 Jahren verkauft. Um die tatsächliche Verbreitung einzuschätzen, muss man noch ein Vielfaches an Plagiaten hinzurechnen. Der Name Allibert bürgerte sich rasch ein als Inbegriff für die gesamte Produktgattung. Dessen ungeachtet hat er hat das Schicksal der meisten Alltagsprodukte aus Kunststoff erlitten: Er ist ein omnipräsenter und nützlicher Diener, aber keinesfalls ein geliebter Zeitgenosse in unserem Zuhause. Er vereint zwar viele Designtugenden, indem er praktische Funktionen für jedermann erschwinglich macht. Aber er vernachlässigt darüber die ästhetische und emotionale Dimension guten Designs. Deshalb haftete dem Allibert in den 80er Jahren der Ruf des Spießertums an, während andere stets präsente Objekte des Badezimmers – wie die Odolflasche, das Hansaplast-Heftpflaster oder der Braun-Rasierer – zu Kultobjekten avancierten. Der Architekt Adolf Loos, dessen Titel »Ornament und Verbrechen« zu einem Topos geworden ist, vermutete, dass man die Kultur eines Volkes an der Art seiner Waschgelegenheiten erkennt. Der Allibert im Badezimmer der Deutschen lässt – was seine kulturelle Leistung angeht – zumindest auf das Ordnungsbedürfnis seiner Besitzer schließen. Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.