»You never change things by fighting the existing reality. If you want to change something, build a new model that makes the existing model obsolete.« »Elf Meilen vor der Penobscot Bay an der Küste des nordöstlichen US-Staates Maine liegt Bear Island. Die Insel gehört der Großtante. Erst unlängst hat sie diese und ein paar andere für die Sommerfrische ihrer angesehenen Familie erworben. Einer ihrer Enkel ist Richard. 1904, im Alter von fünf Jahren, kommt er zum ersten Mal auf die Insel. Die langen Aufenthalte dort prägen seine Weltsicht. Er entdeckt das handwerkliche Geschick der ansässigen Fischer. Sie erzeugen mit ihren Werkzeugen und der präzisen Handhabung einen idealen Wirkungsgrad. Die erzielte Effizienz beim Verhältnis von Aufwand und Ertrag ist ihrem Kampf ums nackte Überleben geschuldet. Richard entdeckt auch, dass die Fischer mit diesen Fertigkeiten, die sie sich auf dem Wasser aneignen müssen, zu Lande jede technische Aufgabe mit Leichtigkeit meistern, etwa das Bauen von Wohnhäusern, das Anlegen von Brunnen oder das Regulieren der Wasserversorgung. Schließlich entdeckt er das Prinzip, Kräfte durch flexible Zugspannung zu nutzen, anstatt ihnen durch statische Massivität erzeugte Kräft entgegen zu setzen. Das wie ein Spinnennetz aufgespannte Segel ist leicht, transportabel, nimmt zusammengefaltet wenig Stauraum in Anspruch und lässt sich in kurzer Zeit von wenigen Händen auf- und abbauen. Aber welch eine Kraft kann das Segel nutzbar machen, wenn es klug eingespannt und von einem erfahrenen Steuermann bedient wird! Wie plump und dumpf ist, verglichen mit dieser ästhetischen und mathematischen Eleganz, eine wuchtige Mauer, die Wohnräume vor dem Sturm beschützen soll. Der Junge beginnt damit, seine eigene Welt zu erschaffen, indem er beobachtet und praktisch experimentiert. Täglich muss er vier Meilen zur nächsten Insel rudern, um die Post zu holen. Üblicherweise sitzt der Ruderer mit dem Rücken zu seinem Ziel. Er muss sich permanent umdrehen, wenn er nicht im Zickzack rudern und wertvolle Energie vergeuden will. Wie einfältig diese Form der Navigation ist! Insbesondere bei Nebel. Richard dreht den Spieß um. Er entwickelt seine »erste teleologische Design-Erfindung: eine Art mechanische Qualle. Das war ein indianerzeltähnlicher, zusammenfaltbarer Kegel aus Gewebe und Geist, der wie ein umgekrempelter Regenschirm auf das untergetauchte Ende einer Stange montiert war.« Wenn der jugendliche Erfinder am Heck seines Bootes sitzt, kann er an der Stange ziehen. Dann faltet sich der Kegel unter Wasser mit seiner Spitze in Fahrtrichtung zusammen. Der Kegel erzeugt kaum Widerstand, das Boot gleitet übers Wasser. Stößt Richard aber die Stange nach hinten, öffnet sich der Kegelschirm und beschleunigt das Boot. Während seiner Fahrt kann er voraus schauen. Die mechanische Qualle ist nur die erste einer langen Reihe erstaunlicher Entwicklungen Richard Buckminster Fullers. Bisweilen wird sie wie der närrische Einfall eines störrischen Jungen beschrieben. Dabei veranschaulicht sie die Bedeutung Fullers unmittelbarer als seine geodätische Kuppeln, die Dymaxion-Weltkarten oder die Sprachschöpfung »Synergie«. »Bucky« wird schon Zeit seines Lebens dafür bewundert, dass er es beherrscht, Perspektiven zu wechseln. Er nimmt die Dinge aus einer anderen Blickrichtung wahr, so dass relevante Zusammenhänge sichtbar werden. Er ist im fundamentalen Sinn des Wortes ein Visionär. Fuller betrachtet das Ganze. Global heißt das: Er sieht die Erde in ihrem universalen Kontext. Aus dem Weltall gesehen, verschwinden viele kleinliche Grenzen und Kategorien, die uns mit unserem beschränkten Horizont wichtig erscheinen mögen. Statt dessen treten existentielle Bezüge hervor. Zum Beispiel das Bild, das wir uns von der Erde machen: Unsere Vorstellung wird maßgeglich davon vorbestimmt, wie wir unsere Welt visualisieren. Eine typische eurozentrische Weltkarte verschiebt Asien an den Tellerrand und Australien in die untere Ecke. Was sich nicht im Fokus befindet, verdient nicht unsere Aufmerksamkeit. Zudem verzerren die überlieferten Karten die Distanzen, sobald die Erdkugel (bzw. -kartoffel) in eine Fläche übertragen wird. Fuller entwickelt eine neue Darstellungsweise. Er projiziert die Erdoberfläche auf ein Ikosaeder, einen Körper aus 20 gleichseitigen Dreiecken. Die einzelnen Flächen können wie bei einem Puzzle ausgebreitet und zusammengesetzt werden. So entsteht nicht nur die Möglichkeit, das eingebrannte Weltbild zu korrigieren. Vor allem handelt es sich um eine Handlungsaufforderung. Denn seine »Dymaxion Map« ergibt nur dann Sinn, wenn sie dynamisch neu gelegt wird, angepasst an die jeweiligen Aspekte, die momentan interessieren. Sie ist so innovativ, dass die US-Behörden sie 1946 als erstes Kartenwerk seit 150 Jahren patentieren. Aber nicht nur die visuelle Ausdrucksweise setzt unserem Denken einen Rahmen. Auch mit den Worten, die wir verwenden, schaffen wir Sprachbilder, die unser Verständnis einschränken. So spricht Fuller stets davon, dass der Wind nicht bläst, sondern zieht. Wenn der Wind uns ins Gesicht bläst, müssen wir uns ihm entgegenstemmen – doch die große Energie der Zugkräfte können wir nutzen, das hat die Menschheit längst gelernt. Fuller legt auch Wert darauf, dass die Sonne nicht auf- und untergeht. Eine Haarspalterei für die einen, aber für Fuller eine Wahrheit im Kontext des Universums. Konsequenterweise bedient er sich für das Neue, das er durch seine Arbeiten in die Welt bringt, keiner alten Begriffe, sondern er denkt sich eigene aus: Dymaxion, Biosphere oder 4D. Mit letzterem verdeutlicht er, dass die Zeit als vierte Dimension in seine Entwicklungen einbezogen ist. Um etwas zu bewirken, wendet er sich wortgewaltig an die Öffentlichkeit. Er verdichtet seine Appelle und Thesen so überzeugend, dass unzählige Zitate von ihm kursieren. Legendär ist seine 42 Stunden dauernde Vorlesung aus dem Jahr 1975 unter dem Titel »Everything I Know«. Die breite Öffentlichkeit wird erst 1967 auf Buckminster Fuller aufmerksam. In diesem Jahr präsentieren sich die USA in seinem Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal, einer riesigen geodätischen Kuppel. Die staunenden Besucher können in dieser künstlichen Sphäre unvermittelt erleben, was sich hinter seinen abstrakten Theorien verbirgt: Der Blick wie von außen auf die Erde als Ganzes, für die er kurz darauf nicht nur ein Bestandsverzeichnis veröffentlicht (»Whole Earth Catalog«), sondern dessen Existenzbedingungen er mit dem Sprachbild vom »Spaceship Earth« verhandelbar macht. Weil diesem Raumschiff bei seinem Flug durchs Weltall die Bedienungsanleitung fehlt, müssen wir etwas tun, um die drohende (Umwelt-) Katastrophe abzuwenden. Die Betonung liegt auf »tun«: design ist für Buckminster Fuller ein Verb.« Wenn Sie diese Publikation kommentieren oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [330]
»You never change things by fighting the existing reality. If you want to change something, build a new model that makes the existing model obsolete.« »Elf Meilen vor der Penobscot Bay an der Küste des nordöstlichen US-Staates Maine liegt Bear Island. Die Insel gehört der Großtante. Erst unlängst hat sie diese und ein paar andere für die Sommerfrische ihrer angesehenen Familie erworben. Einer ihrer Enkel ist Richard. 1904, im Alter von fünf Jahren, kommt er zum ersten Mal auf die Insel. Die langen Aufenthalte dort prägen seine Weltsicht. Er entdeckt das handwerkliche Geschick der ansässigen Fischer. Sie erzeugen mit ihren Werkzeugen und der präzisen Handhabung einen idealen Wirkungsgrad. Die erzielte Effizienz beim Verhältnis von Aufwand und Ertrag ist ihrem Kampf ums nackte Überleben geschuldet. Richard entdeckt auch, dass die Fischer mit diesen Fertigkeiten, die sie sich auf dem Wasser aneignen müssen, zu Lande jede technische Aufgabe mit Leichtigkeit meistern, etwa das Bauen von Wohnhäusern, das Anlegen von Brunnen oder das Regulieren der Wasserversorgung. Schließlich entdeckt er das Prinzip, Kräfte durch flexible Zugspannung zu nutzen, anstatt ihnen durch statische Massivität erzeugte Kräft entgegen zu setzen. Das wie ein Spinnennetz aufgespannte Segel ist leicht, transportabel, nimmt zusammengefaltet wenig Stauraum in Anspruch und lässt sich in kurzer Zeit von wenigen Händen auf- und abbauen. Aber welch eine Kraft kann das Segel nutzbar machen, wenn es klug eingespannt und von einem erfahrenen Steuermann bedient wird! Wie plump und dumpf ist, verglichen mit dieser ästhetischen und mathematischen Eleganz, eine wuchtige Mauer, die Wohnräume vor dem Sturm beschützen soll. Der Junge beginnt damit, seine eigene Welt zu erschaffen, indem er beobachtet und praktisch experimentiert. Täglich muss er vier Meilen zur nächsten Insel rudern, um die Post zu holen. Üblicherweise sitzt der Ruderer mit dem Rücken zu seinem Ziel. Er muss sich permanent umdrehen, wenn er nicht im Zickzack rudern und wertvolle Energie vergeuden will. Wie einfältig diese Form der Navigation ist! Insbesondere bei Nebel. Richard dreht den Spieß um. Er entwickelt seine »erste teleologische Design-Erfindung: eine Art mechanische Qualle. Das war ein indianerzeltähnlicher, zusammenfaltbarer Kegel aus Gewebe und Geist, der wie ein umgekrempelter Regenschirm auf das untergetauchte Ende einer Stange montiert war.« Wenn der jugendliche Erfinder am Heck seines Bootes sitzt, kann er an der Stange ziehen. Dann faltet sich der Kegel unter Wasser mit seiner Spitze in Fahrtrichtung zusammen. Der Kegel erzeugt kaum Widerstand, das Boot gleitet übers Wasser. Stößt Richard aber die Stange nach hinten, öffnet sich der Kegelschirm und beschleunigt das Boot. Während seiner Fahrt kann er voraus schauen. Die mechanische Qualle ist nur die erste einer langen Reihe erstaunlicher Entwicklungen Richard Buckminster Fullers. Bisweilen wird sie wie der närrische Einfall eines störrischen Jungen beschrieben. Dabei veranschaulicht sie die Bedeutung Fullers unmittelbarer als seine geodätische Kuppeln, die Dymaxion-Weltkarten oder die Sprachschöpfung »Synergie«. »Bucky« wird schon Zeit seines Lebens dafür bewundert, dass er es beherrscht, Perspektiven zu wechseln. Er nimmt die Dinge aus einer anderen Blickrichtung wahr, so dass relevante Zusammenhänge sichtbar werden. Er ist im fundamentalen Sinn des Wortes ein Visionär. Fuller betrachtet das Ganze. Global heißt das: Er sieht die Erde in ihrem universalen Kontext. Aus dem Weltall gesehen, verschwinden viele kleinliche Grenzen und Kategorien, die uns mit unserem beschränkten Horizont wichtig erscheinen mögen. Statt dessen treten existentielle Bezüge hervor. Zum Beispiel das Bild, das wir uns von der Erde machen: Unsere Vorstellung wird maßgeglich davon vorbestimmt, wie wir unsere Welt visualisieren. Eine typische eurozentrische Weltkarte verschiebt Asien an den Tellerrand und Australien in die untere Ecke. Was sich nicht im Fokus befindet, verdient nicht unsere Aufmerksamkeit. Zudem verzerren die überlieferten Karten die Distanzen, sobald die Erdkugel (bzw. -kartoffel) in eine Fläche übertragen wird. Fuller entwickelt eine neue Darstellungsweise. Er projiziert die Erdoberfläche auf ein Ikosaeder, einen Körper aus 20 gleichseitigen Dreiecken. Die einzelnen Flächen können wie bei einem Puzzle ausgebreitet und zusammengesetzt werden. So entsteht nicht nur die Möglichkeit, das eingebrannte Weltbild zu korrigieren. Vor allem handelt es sich um eine Handlungsaufforderung. Denn seine »Dymaxion Map« ergibt nur dann Sinn, wenn sie dynamisch neu gelegt wird, angepasst an die jeweiligen Aspekte, die momentan interessieren. Sie ist so innovativ, dass die US-Behörden sie 1946 als erstes Kartenwerk seit 150 Jahren patentieren. Aber nicht nur die visuelle Ausdrucksweise setzt unserem Denken einen Rahmen. Auch mit den Worten, die wir verwenden, schaffen wir Sprachbilder, die unser Verständnis einschränken. So spricht Fuller stets davon, dass der Wind nicht bläst, sondern zieht. Wenn der Wind uns ins Gesicht bläst, müssen wir uns ihm entgegenstemmen – doch die große Energie der Zugkräfte können wir nutzen, das hat die Menschheit längst gelernt. Fuller legt auch Wert darauf, dass die Sonne nicht auf- und untergeht. Eine Haarspalterei für die einen, aber für Fuller eine Wahrheit im Kontext des Universums. Konsequenterweise bedient er sich für das Neue, das er durch seine Arbeiten in die Welt bringt, keiner alten Begriffe, sondern er denkt sich eigene aus: Dymaxion, Biosphere oder 4D. Mit letzterem verdeutlicht er, dass die Zeit als vierte Dimension in seine Entwicklungen einbezogen ist. Um etwas zu bewirken, wendet er sich wortgewaltig an die Öffentlichkeit. Er verdichtet seine Appelle und Thesen so überzeugend, dass unzählige Zitate von ihm kursieren. Legendär ist seine 42 Stunden dauernde Vorlesung aus dem Jahr 1975 unter dem Titel »Everything I Know«. Die breite Öffentlichkeit wird erst 1967 auf Buckminster Fuller aufmerksam. In diesem Jahr präsentieren sich die USA in seinem Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal, einer riesigen geodätischen Kuppel. Die staunenden Besucher können in dieser künstlichen Sphäre unvermittelt erleben, was sich hinter seinen abstrakten Theorien verbirgt: Der Blick wie von außen auf die Erde als Ganzes, für die er kurz darauf nicht nur ein Bestandsverzeichnis veröffentlicht (»Whole Earth Catalog«), sondern dessen Existenzbedingungen er mit dem Sprachbild vom »Spaceship Earth« verhandelbar macht. Weil diesem Raumschiff bei seinem Flug durchs Weltall die Bedienungsanleitung fehlt, müssen wir etwas tun, um die drohende (Umwelt-) Katastrophe abzuwenden. Die Betonung liegt auf »tun«: design ist für Buckminster Fuller ein Verb.« Wenn Sie diese Publikation kommentieren oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.