Die Wurzeln der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG)
22. Oktober 1995
Im folgenden geht es um die Beziehungen zwischen der Volkshochschule (VHS) Ulm, einem herausragenden Exponenten der Erwachsenenbildung in der frühen Bundesrepublik, und der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG).[1] Es soll gezeigt werden, daß die HfG nur deshalb gegründet werden konnte, weil sie aus der VHS Ulm hervorgegangen ist.
Die HfG – eine international bedeutende Design-Schule Die HfG war eine Institution außerhalb des bundesdeutschen Bildungssystems. Sie bestand von 1953 bis 1968 und wurde von der privaten Geschwister-Scholl-Stiftung (GSS) getragen. Die Stiftung organisierte die Finanzierung der HfG aus Mitteln der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand, wobei die Mittel von Stadt, Land und Bund im Laufe der Jahre überwogen und so eine Abhängigkeit hervorriefen, die ihre Gründer hatten vermeiden wollen.
An der HfG gab es vier Abteilungen: Produktgestaltung, Visuelle Kommunikation, Architektur bzw. Industrialisiertes Bauen und Information. Zudem entwickelte sich aus der Initiative vor allem Alexander Kluges 1961/62 das Institut für Filmgestaltung. Im Laufe der 15 Jahre ihres Bestehens schrieben sich insgesamt 637 Studierende an der HfG ein, darunter 91 Frauen; 278 der eingeschriebenen Studierenden kamen aus dem Ausland.
Die HfG war aus folgenden drei Gründen die wichtigste Design-Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland: Zum einen leisteten die HfG-Angehörigen einen bedeutenden Beitrag zur Grundlagenforschung, zur Methodik und zur wissenschaftlichen Fundierung des Entwerfens – man spricht in diesem Zusammenhang heute noch vom »Ulmer Modell«. Zum anderen haben viele der an der HfG entwickelten Produkte das internationale Design beeinflußt – der »Ulmer Stil« wurde durch die zeitgenössische Anerkennung international verbreitet. Und nicht zuletzt war die HfG ein Schmelztiegel, aus dem eine Vielzahl von Design-Professoren hervorgegangen ist: Rund 18% der »Ulmer« unterrichteten nach der Schließung der HfG als Dozenten und damit als Multiplikatoren im In- und Ausland.
Beziehungen zwischen der VHS Ulm und der HfG Wie eingangs bereits angedeutet, lassen sich Verbindungslinien zwischen der VHS Ulm und der HfG nachweisen, ohne die es zu einer Gründung der Design-Einrichtung in der beschriebenen Form nicht gekommen wäre. Die VHS Ulm ging aus einer privaten Initiative Otl Aichers hervor, der wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Ulm öffentliche Vorträge veranstaltete, in denen es um die Notwendigkeit ging, angesichts der gerade überlebten Katastrophe einen gesellschaftlichen Neuanfang zu wagen. Das vielzitierte Stichwort von der »Stunde Null« bedeutete in diesem Kontext, nicht einfach eine Kontinuität zu der Zeit vor 1933 herzustellen, sondern an andere historische, kulturelle und gesellschaftliche Grundlagen anzuknüpfen, die nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden waren[2]; dazu gehörte aus dem Bereich der Gestaltung das »Bauhaus«.
Inge Scholl und Otl Aicher gründeten im Anschluß an die Vorträge die VHS Ulm. Sie wurden dabei vom US High-Commissioner of Germany (HICOG) unterstützt, weil ihr Konzept hervorragend in das amerikanische Re-education-Prograrnm paßte.[3] Am 24.04.1946 eröffnete der damalige Kultusminister von Württemberg-Baden, Theodor Heuss, den Betrieb der VHS Ulm. Es stellte sich bald ein außerordentlicher und unerwarteter Erfolg ein.
So gediehen unter dem Einfluß des »Ulmer Kreises« um die VHS Ulm Pläne, eine zweite Bildungseinrichtung zu gründen, die sich international ausrichten und die für die Lebens- und Berufspraxis ihrer Studenten unmittelbar verwertbares Wissen und Fertigkeiten vermitteln sollte. Aber erst Ende des Jahres 1949 ergab sich für Inge Scholl ein Kontakt zum Leiter der Norwegischen Europahilfe, Odd Nansen; dieser Kontakt war die Initialzündung zur Gründung der HfG.
Inge Scholl und Otl Aicher traten 1949 mit denselben gesellschafts- und kulturpolitischen Überzeugungen an die Gründung der HfG heran, die sie schon bei der Errichtung der VHS Ulm 1945 geteilt hatten: Der Neubeginn der deutschen Gesellschaft sollte aus einer »vom Geist des Humanismus geprägte(n) Verbindung von Demokratie und Sozialismus«[4] hervorgehen. Sie hatten sich außerdem die Ansicht des Bauhauses zu eigen gemacht, daß die Gestaltung der Dinge des täglichen Bedarfs verbessert werden müßte, um die Lebensverhältnisse der einfachen Bevölkerung anzuheben. Der Gestalter hatte in ihren Augen auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung. Man könnte ihre Überzeugung auf das Motto »Demokratisierung durch Design« zuspitzen.
Aber sie mußten feststellen, daß sich mittlerweile die Stimmung in der Bevölkerung gewandelt hatte: War es vier Jahre zuvor noch weitverbreitete Ansicht, daß sich die Gesellschaft in Deutschland grundlegend wandeln müsse, damit so etwas wie das »Dritte Reich« nicht wieder möglich wäre, so stießen die HfG-Gründer nun überall auf Unverständnis für Neuanfänge, Neugründungen und neue Denkansätze.[5] Inge Scholl bemerkte einmal, daß es leichter gewesen wäre, an etwas Bestehendes anzuknüpfen oder etwas Traditionelles aufzubauen.[6]
Daß sich Inge Scholl und Otl Aicher dieses »Nullpunkt-Denken« bewahrt hatten, ist ein wichtiger Grund dafür, daß die HfG nicht ohne die VHS Ulm zu denken ist. Beide haben ihre gesellschafts- und kulturpolitische Haltung über die Gründung der HfG hinaus in diese hineingetragen und ihre Vorstellungen dort auch zum Teil verwirklichen können. Dazu gehört auch, daß sie im Frühjahr 1950 mit Max Bill einen prominenten Vertreter des Bauhauses für ihren Plan gewinnen konnten. Hiermit schlugen sie die Brücke zu einer Kontinuität, die sich von derjenigen Kontinuität deutlich unterschied, mit der nun in Deutschland unter dem Stichwort »Normalität« seit dem Beginn des »Wirtschaftswunders« an die Zeit vor 1933 angeknüpft wurde.[7]
Hinsichtlich der Verbindung von VHS Ulm und HfG ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß die Gründer beider Einrichtungen identisch waren: Es waren dieselben engagierten Menschen, die sich zuerst der Erwachsenenbildung verschrieben hatten und dann über die HfG Kulturpolitik in einem weitergefaßten Maßstab betrieben. So wichtig dieser Aspekt auch ist, so darf er doch nicht zu unangemessenen Einschätzungen führen: Bis auf die Gründer der VHS Ulm und der HfG, lnge Scholl und Otl Aicher, finden sich keine weiteren Verbindungen und Kontakte, die aus der Arbeit der VHS Ulm hervorgehend die HfG bereichert hätten. Man darf aber nicht übersehen, daß die HfG in ihren kargen Anfangsjahren auf die Institution VHS Ulm zurückgreifen konnte, eben weil beide Einrichtungen über Inge Scholl und Otl Aicher miteinander verwoben waren. Die Aufbauarbeit wurde in den Räumen und mit der Verwaltungsausstattung der VHS Ulm geleistet, und als am 03.08.1953 der erste Grundkurs von Walter Peterhans den Unterricht der HfG eröffnete, fand dieser in den Räumen der VHS Ulm statt.
Ein vierter und letzter Grund ist vermutlich der ausschlaggebende gewesen: Die Gründer der HfG hätten in diesen frühen 50er Jahren, die ja, wie erwähnt, andere Rahmenbedingungen als die späten 40er aufwiesen, kaum finanzielle Mittel für ihre Neugründung erhalten, weder vom Land noch vom Bund und erst recht nicht von privatwirtschaftlicher Seite, wenn nicht der amerikanische Hochkommissar McCloy hinter dem Vorhaben gestanden hätte. Er hatte dem Plan zur Errichtung der HfG zugestimmt und eine Million DM versprochen, wenn eine zweite Million innerhalb eines Jahres von deutscher Seite aufgebracht würde und wenn der Betrieb der HfG innerhalb der ersten drei Jahre gesichert wäre. Es ist heute kaum noch vorstellbar, gegen welche Widerstände sich Inge Scholl und ihre Mitstreiter in deutschen Ministerien und Vorstandsetagen bei der Spendensammlung durchsetzen mußten, obwohl John J. McCloy ihnen den Rücken stärkte. HICOG wiederum hätte Inge Scholl und Otl Aicher nicht unterstützt, wenn diese nicht ihre Erfahrung und ihren Erfolg mit der VHS Ulm hätten vorweisen können. Schließlich hatte sich durch ihre Arbeit die VHS für einige Jahre zum Mittelpunkt des geistigen Lebens der Stadt Ulm entwickelt.
Wenn man diesen Faden noch ein wenig weiter verfolgt, so läßt sich auch schlußfolgern, daß die HfG, wäre sie ohne die Vorgeschichte der VHS Ulm gegründet worden, zumindestens in den Anfangsjahren ohne ihren architektonischen und institutionellen Rahmen hätte bestehen müssen. Die Campus-Anlage gehörte aber von ihrem Wesen her zur HfG und zu ihrem Programm, sie bedingte ihre Eigenheit und ihren Charakter. Ohne ihre Hochschulbauten wäre die HfG eine Schule ohne festen Bezugspunkt gewesen. Da ist es fraglich, ob sie überhaupt eben ihre schulbildende internationale Wirkung hätte entfalten und sich zum Brennpunkt der Lebenslinien verschiedenster ausgeprägter Persönlichkeiten entwickeln können.
Abschließend bleibt festzuhalten, daß das hier gewählte Beispiel eine enge Verbindung zwischen der Erwachsenenbildung und der kulturellen Entwicklung in der frühen Bundesrepublik nachweist: Die Volkshochschule Ulm kann als Impulsgeber der Hochschule für Gestaltung Ulm angesehen werden.
Literatur AICHER, O.: Die Hochschule für Gestaltung. Neun Stufen ihrer Entwicklung, in: archithese 15 (1975), S. 26-37. DERS.: krise der moderne, in: DERS.: die weit als entwurf, Berlin 1991, S. 15-26. DERS .: bauhaus und ulm, in: DERS.: die weit als entwurf, a.a.O., S. 87-95. BUNGENSTAB, K.-E.: Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945-1949, Düsseldorf 1970. FREI, H.: Konkrete Architektur? Über Max Bill als Architekt, Baden/Schweiz 1991. GLASER, H.: Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bde. 1-3, Frankfurt a. M. 1990. LINDINGER, H. (Hg.): Ulm – Hochschule für Gestaltung. Die Moral der Gegenstände, Berlin 1987. RETTICH, H.: Kunstförderung, in: SCHRAAB, M. (Hg.): 40 Jahre BadenWürttemberg. Aufbau und Gestaltung 1952-1992, Stuttgart 1992, S. 557-589. RÜBENACH, B.: der rechte winke! von ulm. ein bericht über die hochschule für gestaltung 1958/59, hg. v. B. MEURER, Darmstadt 1987. RUPPERT, W.: Ulm ist tot. Es lebe Ulm! Rückblick auf die Hochschule für Gestaltung, in: Kursbuch 106 (1991), S. 119-138. SCHNAIDT, C.: Ulm 1955-1975, in: archithese 15 (1975), S. 5-10. SCHWARZ, H. P.: Die Ära Adenauer 1949-1958. Gründerjahre der Republik, Stuttgart/Wiesbaden 1981. SECKENDORFF, E. von: Die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Gründung (1949-1953) und Ära Max Bill (1953-1957), Marburg 1989. SONTHEIMER, K.: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 1991. SPITZ, R.: Die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Ein Beispiel für kulturelle Bemühungen und Kulturpolitik in der frühen Bundesrepublik, Köln 1993 (unveröff. Magisterarbeit).
Anmerkungen [1] Dieser Artikel faßt im wesentlichen einen Teil der Ergebnisse meiner Magisterarbeit zusammen, die ich 1993 Uber die Gründungsgeschichte der HfG geschrieben habe. Im übrigen verweise ich auf meine Dissertation, die an der Universität zu Köln von Prof. Dr. Harm Klueting betreut und im nächsten Jahr unter dem Titel »Politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung« veröffentlicht wird. [2] Vgl. hierzu etwa GLASER (1990). [3] Zum Konzept der Re-education vgl. BUNGENSTAB (1970). [4] SONTHEIMER (1991), S. 135. [5] Vgl. hierzu etwa SCHWARZ (1981). [6] Vgl. HfG-Archiv, Akte 433: unveröffentlichter Brief von Inge Scholl an Shepard Stone vom 31.12.1951. [7] Die Bedeutung Max Bills für das Vertrauen der Amerikaner in das Gelingen der HfG-Gründung steht zwar hier nicht im Mittelpunkt des Interesses, darf aber dennoch nicht unerwähnt bleiben. Übrigens war es auch Max Bill, der im Sommer 1950 den Plan lnge Scholls und Otl Aichers umwandelte: Aus einer Hochschule für Politik mit gestalterischem Hintergrund wurde eine Hochschule für Gestaltung mit politischer Unterfütterung. Er vollbrachte außerdem das Kunststück, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß diesem Konzept mit ihm als Rektor mehr Überlebensaussichten beschieden seien, obwohl das ursprüngliche Konzept den Re-educuation-lntentionen sehr entgegenkam.
Die Wurzeln der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG)
Im folgenden geht es um die Beziehungen zwischen der Volkshochschule (VHS) Ulm, einem herausragenden Exponenten der Erwachsenenbildung in der frühen Bundesrepublik, und der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG).[1] Es soll gezeigt werden, daß die HfG nur deshalb gegründet werden konnte, weil sie aus der VHS Ulm hervorgegangen ist.
Die HfG – eine international bedeutende Design-Schule Die HfG war eine Institution außerhalb des bundesdeutschen Bildungssystems. Sie bestand von 1953 bis 1968 und wurde von der privaten Geschwister-Scholl-Stiftung (GSS) getragen. Die Stiftung organisierte die Finanzierung der HfG aus Mitteln der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand, wobei die Mittel von Stadt, Land und Bund im Laufe der Jahre überwogen und so eine Abhängigkeit hervorriefen, die ihre Gründer hatten vermeiden wollen.
An der HfG gab es vier Abteilungen: Produktgestaltung, Visuelle Kommunikation, Architektur bzw. Industrialisiertes Bauen und Information. Zudem entwickelte sich aus der Initiative vor allem Alexander Kluges 1961/62 das Institut für Filmgestaltung. Im Laufe der 15 Jahre ihres Bestehens schrieben sich insgesamt 637 Studierende an der HfG ein, darunter 91 Frauen; 278 der eingeschriebenen Studierenden kamen aus dem Ausland.
Die HfG war aus folgenden drei Gründen die wichtigste Design-Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland: Zum einen leisteten die HfG-Angehörigen einen bedeutenden Beitrag zur Grundlagenforschung, zur Methodik und zur wissenschaftlichen Fundierung des Entwerfens – man spricht in diesem Zusammenhang heute noch vom »Ulmer Modell«. Zum anderen haben viele der an der HfG entwickelten Produkte das internationale Design beeinflußt – der »Ulmer Stil« wurde durch die zeitgenössische Anerkennung international verbreitet. Und nicht zuletzt war die HfG ein Schmelztiegel, aus dem eine Vielzahl von Design-Professoren hervorgegangen ist: Rund 18% der »Ulmer« unterrichteten nach der Schließung der HfG als Dozenten und damit als Multiplikatoren im In- und Ausland.
Beziehungen zwischen der VHS Ulm und der HfG
Wie eingangs bereits angedeutet, lassen sich Verbindungslinien zwischen der VHS Ulm und der HfG nachweisen, ohne die es zu einer Gründung der Design-Einrichtung in der beschriebenen Form nicht gekommen wäre. Die VHS Ulm ging aus einer privaten Initiative Otl Aichers hervor, der wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Ulm öffentliche Vorträge veranstaltete, in denen es um die Notwendigkeit ging, angesichts der gerade überlebten Katastrophe einen gesellschaftlichen Neuanfang zu wagen. Das vielzitierte Stichwort von der »Stunde Null« bedeutete in diesem Kontext, nicht einfach eine Kontinuität zu der Zeit vor 1933 herzustellen, sondern an andere historische, kulturelle und gesellschaftliche Grundlagen anzuknüpfen, die nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden waren[2]; dazu gehörte aus dem Bereich der Gestaltung das »Bauhaus«.
Inge Scholl und Otl Aicher gründeten im Anschluß an die Vorträge die VHS Ulm. Sie wurden dabei vom US High-Commissioner of Germany (HICOG) unterstützt, weil ihr Konzept hervorragend in das amerikanische Re-education-Prograrnm paßte.[3] Am 24.04.1946 eröffnete der damalige Kultusminister von Württemberg-Baden, Theodor Heuss, den Betrieb der VHS Ulm. Es stellte sich bald ein außerordentlicher und unerwarteter Erfolg ein.
So gediehen unter dem Einfluß des »Ulmer Kreises« um die VHS Ulm Pläne, eine zweite Bildungseinrichtung zu gründen, die sich international ausrichten und die für die Lebens- und Berufspraxis ihrer Studenten unmittelbar verwertbares Wissen und Fertigkeiten vermitteln sollte. Aber erst Ende des Jahres 1949 ergab sich für Inge Scholl ein Kontakt zum Leiter der Norwegischen Europahilfe, Odd Nansen; dieser Kontakt war die Initialzündung zur Gründung der HfG.
Inge Scholl und Otl Aicher traten 1949 mit denselben gesellschafts- und kulturpolitischen Überzeugungen an die Gründung der HfG heran, die sie schon bei der Errichtung der VHS Ulm 1945 geteilt hatten: Der Neubeginn der deutschen Gesellschaft sollte aus einer »vom Geist des Humanismus geprägte(n) Verbindung von Demokratie und Sozialismus«[4] hervorgehen. Sie hatten sich außerdem die Ansicht des Bauhauses zu eigen gemacht, daß die Gestaltung der Dinge des täglichen Bedarfs verbessert werden müßte, um die Lebensverhältnisse der einfachen Bevölkerung anzuheben. Der Gestalter hatte in ihren Augen auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung. Man könnte ihre Überzeugung auf das Motto »Demokratisierung durch Design« zuspitzen.
Aber sie mußten feststellen, daß sich mittlerweile die Stimmung in der Bevölkerung gewandelt hatte: War es vier Jahre zuvor noch weitverbreitete Ansicht, daß sich die Gesellschaft in Deutschland grundlegend wandeln müsse, damit so etwas wie das »Dritte Reich« nicht wieder möglich wäre, so stießen die HfG-Gründer nun überall auf Unverständnis für Neuanfänge, Neugründungen und neue Denkansätze.[5] Inge Scholl bemerkte einmal, daß es leichter gewesen wäre, an etwas Bestehendes anzuknüpfen oder etwas Traditionelles aufzubauen.[6]
Daß sich Inge Scholl und Otl Aicher dieses »Nullpunkt-Denken« bewahrt hatten, ist ein wichtiger Grund dafür, daß die HfG nicht ohne die VHS Ulm zu denken ist. Beide haben ihre gesellschafts- und kulturpolitische Haltung über die Gründung der HfG hinaus in diese hineingetragen und ihre Vorstellungen dort auch zum Teil verwirklichen können. Dazu gehört auch, daß sie im Frühjahr 1950 mit Max Bill einen prominenten Vertreter des Bauhauses für ihren Plan gewinnen konnten. Hiermit schlugen sie die Brücke zu einer Kontinuität, die sich von derjenigen Kontinuität deutlich unterschied, mit der nun in Deutschland unter dem Stichwort »Normalität« seit dem Beginn des »Wirtschaftswunders« an die Zeit vor 1933 angeknüpft wurde.[7]
Hinsichtlich der Verbindung von VHS Ulm und HfG ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß die Gründer beider Einrichtungen identisch waren: Es waren dieselben engagierten Menschen, die sich zuerst der Erwachsenenbildung verschrieben hatten und dann über die HfG Kulturpolitik in einem weitergefaßten Maßstab betrieben. So wichtig dieser Aspekt auch ist, so darf er doch nicht zu unangemessenen Einschätzungen führen: Bis auf die Gründer der VHS Ulm und der HfG, lnge Scholl und Otl Aicher, finden sich keine weiteren Verbindungen und Kontakte, die aus der Arbeit der VHS Ulm hervorgehend die HfG bereichert hätten. Man darf aber nicht übersehen, daß die HfG in ihren kargen Anfangsjahren auf die Institution VHS Ulm zurückgreifen konnte, eben weil beide Einrichtungen über Inge Scholl und Otl Aicher miteinander verwoben waren. Die Aufbauarbeit wurde in den Räumen und mit der Verwaltungsausstattung der VHS Ulm geleistet, und als am 03.08.1953 der erste Grundkurs von Walter Peterhans den Unterricht der HfG eröffnete, fand dieser in den Räumen der VHS Ulm statt.
Ein vierter und letzter Grund ist vermutlich der ausschlaggebende gewesen: Die Gründer der HfG hätten in diesen frühen 50er Jahren, die ja, wie erwähnt, andere Rahmenbedingungen
als die späten 40er aufwiesen, kaum finanzielle Mittel für ihre Neugründung erhalten, weder vom Land noch vom Bund und erst recht nicht von privatwirtschaftlicher Seite, wenn nicht der amerikanische Hochkommissar McCloy hinter dem Vorhaben gestanden hätte. Er hatte dem Plan zur Errichtung der HfG zugestimmt und eine Million DM versprochen, wenn eine zweite Million innerhalb eines Jahres von deutscher Seite aufgebracht würde und wenn der Betrieb der HfG innerhalb der ersten drei Jahre gesichert wäre. Es ist heute kaum noch vorstellbar, gegen welche Widerstände sich Inge Scholl und ihre Mitstreiter in deutschen Ministerien und Vorstandsetagen bei der Spendensammlung durchsetzen mußten, obwohl John J. McCloy ihnen den Rücken stärkte. HICOG wiederum hätte Inge Scholl und Otl Aicher nicht unterstützt, wenn diese nicht ihre Erfahrung und ihren Erfolg mit der VHS Ulm hätten vorweisen können. Schließlich hatte sich durch ihre Arbeit die VHS für einige Jahre zum Mittelpunkt des geistigen Lebens der Stadt Ulm entwickelt.
Wenn man diesen Faden noch ein wenig weiter verfolgt, so läßt sich auch schlußfolgern, daß die HfG, wäre sie ohne die Vorgeschichte der VHS Ulm gegründet worden, zumindestens in den Anfangsjahren ohne ihren architektonischen und institutionellen Rahmen hätte bestehen müssen. Die Campus-Anlage gehörte aber von ihrem Wesen her zur HfG und zu ihrem Programm, sie bedingte ihre Eigenheit und ihren Charakter. Ohne ihre Hochschulbauten wäre die HfG eine Schule ohne festen Bezugspunkt gewesen. Da ist es fraglich, ob sie überhaupt eben ihre schulbildende internationale Wirkung hätte entfalten und sich zum Brennpunkt der Lebenslinien verschiedenster ausgeprägter Persönlichkeiten entwickeln können.
Abschließend bleibt festzuhalten, daß das hier gewählte Beispiel eine enge Verbindung zwischen der Erwachsenenbildung und der kulturellen Entwicklung in der frühen Bundesrepublik nachweist: Die Volkshochschule Ulm kann als Impulsgeber der Hochschule für Gestaltung Ulm angesehen werden.
Literatur
AICHER, O.: Die Hochschule für Gestaltung. Neun Stufen ihrer Entwicklung, in: archithese 15 (1975), S. 26-37.
DERS.: krise der moderne, in: DERS.: die weit als entwurf, Berlin 1991, S. 15-26.
DERS .: bauhaus und ulm, in: DERS.: die weit als entwurf, a.a.O., S. 87-95.
BUNGENSTAB, K.-E.: Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945-1949, Düsseldorf 1970.
FREI, H.: Konkrete Architektur? Über Max Bill als Architekt, Baden/Schweiz 1991.
GLASER, H.: Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bde. 1-3, Frankfurt a. M. 1990.
LINDINGER, H. (Hg.): Ulm – Hochschule für Gestaltung. Die Moral der Gegenstände, Berlin 1987.
RETTICH, H.: Kunstförderung, in: SCHRAAB, M. (Hg.): 40 Jahre BadenWürttemberg. Aufbau und Gestaltung 1952-1992, Stuttgart 1992, S. 557-589.
RÜBENACH, B.: der rechte winke! von ulm. ein bericht über die hochschule für gestaltung 1958/59, hg. v. B. MEURER, Darmstadt 1987.
RUPPERT, W.: Ulm ist tot. Es lebe Ulm! Rückblick auf die Hochschule für Gestaltung, in: Kursbuch 106 (1991), S. 119-138.
SCHNAIDT, C.: Ulm 1955-1975, in: archithese 15 (1975), S. 5-10.
SCHWARZ, H. P.: Die Ära Adenauer 1949-1958. Gründerjahre der Republik, Stuttgart/Wiesbaden 1981.
SECKENDORFF, E. von: Die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Gründung (1949-1953) und Ära Max Bill (1953-1957), Marburg 1989.
SONTHEIMER, K.: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 1991.
SPITZ, R.: Die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Ein Beispiel für kulturelle Bemühungen und Kulturpolitik in der frühen Bundesrepublik, Köln 1993 (unveröff. Magisterarbeit).
Anmerkungen
[1] Dieser Artikel faßt im wesentlichen einen Teil der Ergebnisse meiner Magisterarbeit zusammen, die ich 1993 Uber die Gründungsgeschichte der HfG geschrieben habe. Im übrigen verweise ich auf meine Dissertation, die an der Universität zu Köln von Prof. Dr. Harm Klueting betreut und im nächsten Jahr unter dem Titel »Politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung« veröffentlicht wird.
[2] Vgl. hierzu etwa GLASER (1990).
[3] Zum Konzept der Re-education vgl. BUNGENSTAB (1970).
[4] SONTHEIMER (1991), S. 135.
[5] Vgl. hierzu etwa SCHWARZ (1981).
[6] Vgl. HfG-Archiv, Akte 433: unveröffentlichter Brief von Inge Scholl an Shepard Stone vom 31.12.1951.
[7] Die Bedeutung Max Bills für das Vertrauen der Amerikaner in das Gelingen der HfG-Gründung steht zwar hier nicht im Mittelpunkt des Interesses, darf aber dennoch nicht unerwähnt bleiben. Übrigens war es auch Max Bill, der im Sommer 1950 den Plan lnge Scholls und Otl Aichers umwandelte: Aus einer Hochschule für Politik mit gestalterischem Hintergrund wurde eine Hochschule für Gestaltung mit politischer Unterfütterung. Er vollbrachte außerdem das Kunststück, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß diesem Konzept mit ihm als Rektor mehr Überlebensaussichten beschieden seien, obwohl das ursprüngliche Konzept den Re-educuation-lntentionen sehr entgegenkam.
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