»Das Produkt: Ein Stuhl. Die Sitzfläche aus Rohrgeflecht. Zwei Stuhlbeine aus dunkelbraun gebeiztem und politiertem Buchenholz vorne angeschraubt. Die Lehne: Nur ein einziger Buchenholzstab – gebogen zu einem Kreis, dessen unteres Viertel bis zum Boden herabreicht und die Hinterbeine des Stuhls bildet. Der erste Welterfolg im Design beginnt mit Müßiggang, Pleite, Widerstand – und auch gleich mit Plagiaten. Seit 1830 experimentiert der Tischlermeister Michael Thonet in Boppard am Rhein mit geschnittenen Holzlatten. Erst kocht er sie in Leim, dann macht er sie über Wasserdampf gefügig und presst sie schließlich in ein Stahlkorsett zum Trocknen. »Auf Biegen und Brechen« lautet der Titel einer Unternehmensgeschichte. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Autoren längst, daß es sich um eine Erfolgsgeschichte handelt. Denn spätestens seit 1840 kann Michael Thonet Stühle aus gebogenem Holz herstellen. Der preußische Staat patentiert sein innovatives Verfahren dennoch nicht, obwohl es Zeit und Material spart und dadurch die Möbel billiger und leichter macht. Der österreichische Staatskanzler Clemens Fürst Metternich wird 1841 bei der Koblenzer Gewerbeausstellung auf Thonet aufmerksam. Mit den Worten: «In Boppard werden Sie ein armer Mann bleiben, gehen Sie nach Wien, ich werde Sie bei Hofe empfehlen», überredet Metternich den Tischler, in die Residenz- und Reichshauptstadt der K-und-K-Monarchie überzusiedeln. Dabei mag Thonets drückende Schuldenlast ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Aussicht auf wohlhabende Kundschaft in viel größerer Zahl als in der rheinischen Provinz. Der Anfang 1842 in Wien ist für den einfallsreichen Tischler dann aber doch kein Zuckerschlecken. Er ist erstmal hauptsächlich mit Parkettverlegen beschäftigt – und kann nur nebenbei damit experimentieren, massive Holzstäbe zu verbiegen, um daraus einen Stuhl zu fertigen. Doch er gibt nicht auf. 1849 gründet er wieder ein eigenes Unter-nehmen. Seit 1856 kann er massive Bugholzmöbel im industriellen Maßstab herstellen. 1857 erhält er den Auftrag für die Bestuhlung eines Cafés. Genauer: DES Wiener Kaffeehauses, in dem sich die schicke und prominente Biedermeier-Gesellschaft trifft, um Geld und Zeit zu vertrödeln. Die Hausherrin, Anna Daum, ist von den federleichten, schwungvoll und zugleich sparsam geformten Stühlen Michael Thonets begeistert und möbliert damit ihr Kaffeehaus anstelle der bis dato genutzten muffigen, sperrigen Sessel. Damit läutet sie eine stilistische Kehrtwende ein – heute würden wir sagen: Sie war Trendsetter im Interior Design. Thonets Bugholzstühle werden ein Verkaufsschlager, und die Konkurrenz schläft nicht: Hatten die lieben Kollegen anfangs noch versucht, berufsständische Hürden zu errichten, so möchten sie nun an Thonets Erfolg teilhaben. Die Kaffeehausstühle werden dreist kopiert. Daraufhin markiert Thonet seine eigenen Produkte – wir sagen heute: die Originale – mit seinem Schriftzug auf der Unterseite der Sitzfläche. Aber es dauert nicht lange, bis auch diese Markenzeichen mitkopiert werden. Was uns lehrt, daß der Geschäftssinn für Raubkopien nicht erst auf die Globalisierung warten musste. Ebenso wie die Produktionsverlagerung in Billiglohnländer auch keine Erfindung von heute ist. Thonet produziert schon nach wenigen Jahren des ungebremsten Wachstums in seiner eigenen Fabrik in Mähren. Dort ist es billig, und die vielen Wälder sorgen für ausreichend Holz. Der kluge Unternehmer perfektioniert die industrielle Kette aus serieller Vorproduktion, Transport und Endfertigung am Verkaufsort – vielleicht sogar durch den Käufer selbst. Sein Kaffeehausstuhl Nr. 14 aus dem Jahr 1859, DER Klassiker unter den Klassikern des Möbeldesigns schlechthin, besteht aus nur 6 vorgefertigten Holzteilen, 10 Schrauben und 2 Muttern. Handlich in seine Einzelteile zerlegt und versandfertig verpackt: 36 Stück passen in eine einzige Transportkiste. Vermutlich mehr als 60 Millionen mal produziert. – Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Dann unterhalten wir uns nächsten Montag über IKEA.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [108]
»Das Produkt: Ein Stuhl. Die Sitzfläche aus Rohrgeflecht. Zwei Stuhlbeine aus dunkelbraun gebeiztem und politiertem Buchenholz vorne angeschraubt. Die Lehne: Nur ein einziger Buchenholzstab – gebogen zu einem Kreis, dessen unteres Viertel bis zum Boden herabreicht und die Hinterbeine des Stuhls bildet. Der erste Welterfolg im Design beginnt mit Müßiggang, Pleite, Widerstand – und auch gleich mit Plagiaten. Seit 1830 experimentiert der Tischlermeister Michael Thonet in Boppard am Rhein mit geschnittenen Holzlatten. Erst kocht er sie in Leim, dann macht er sie über Wasserdampf gefügig und presst sie schließlich in ein Stahlkorsett zum Trocknen. »Auf Biegen und Brechen« lautet der Titel einer Unternehmensgeschichte. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Autoren längst, daß es sich um eine Erfolgsgeschichte handelt. Denn spätestens seit 1840 kann Michael Thonet Stühle aus gebogenem Holz herstellen. Der preußische Staat patentiert sein innovatives Verfahren dennoch nicht, obwohl es Zeit und Material spart und dadurch die Möbel billiger und leichter macht. Der österreichische Staatskanzler Clemens Fürst Metternich wird 1841 bei der Koblenzer Gewerbeausstellung auf Thonet aufmerksam. Mit den Worten: «In Boppard werden Sie ein armer Mann bleiben, gehen Sie nach Wien, ich werde Sie bei Hofe empfehlen», überredet Metternich den Tischler, in die Residenz- und Reichshauptstadt der K-und-K-Monarchie überzusiedeln. Dabei mag Thonets drückende Schuldenlast ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Aussicht auf wohlhabende Kundschaft in viel größerer Zahl als in der rheinischen Provinz. Der Anfang 1842 in Wien ist für den einfallsreichen Tischler dann aber doch kein Zuckerschlecken. Er ist erstmal hauptsächlich mit Parkettverlegen beschäftigt – und kann nur nebenbei damit experimentieren, massive Holzstäbe zu verbiegen, um daraus einen Stuhl zu fertigen. Doch er gibt nicht auf. 1849 gründet er wieder ein eigenes Unter-nehmen. Seit 1856 kann er massive Bugholzmöbel im industriellen Maßstab herstellen. 1857 erhält er den Auftrag für die Bestuhlung eines Cafés. Genauer: DES Wiener Kaffeehauses, in dem sich die schicke und prominente Biedermeier-Gesellschaft trifft, um Geld und Zeit zu vertrödeln. Die Hausherrin, Anna Daum, ist von den federleichten, schwungvoll und zugleich sparsam geformten Stühlen Michael Thonets begeistert und möbliert damit ihr Kaffeehaus anstelle der bis dato genutzten muffigen, sperrigen Sessel. Damit läutet sie eine stilistische Kehrtwende ein – heute würden wir sagen: Sie war Trendsetter im Interior Design. Thonets Bugholzstühle werden ein Verkaufsschlager, und die Konkurrenz schläft nicht: Hatten die lieben Kollegen anfangs noch versucht, berufsständische Hürden zu errichten, so möchten sie nun an Thonets Erfolg teilhaben. Die Kaffeehausstühle werden dreist kopiert. Daraufhin markiert Thonet seine eigenen Produkte – wir sagen heute: die Originale – mit seinem Schriftzug auf der Unterseite der Sitzfläche. Aber es dauert nicht lange, bis auch diese Markenzeichen mitkopiert werden. Was uns lehrt, daß der Geschäftssinn für Raubkopien nicht erst auf die Globalisierung warten musste. Ebenso wie die Produktionsverlagerung in Billiglohnländer auch keine Erfindung von heute ist. Thonet produziert schon nach wenigen Jahren des ungebremsten Wachstums in seiner eigenen Fabrik in Mähren. Dort ist es billig, und die vielen Wälder sorgen für ausreichend Holz. Der kluge Unternehmer perfektioniert die industrielle Kette aus serieller Vorproduktion, Transport und Endfertigung am Verkaufsort – vielleicht sogar durch den Käufer selbst. Sein Kaffeehausstuhl Nr. 14 aus dem Jahr 1859, DER Klassiker unter den Klassikern des Möbeldesigns schlechthin, besteht aus nur 6 vorgefertigten Holzteilen, 10 Schrauben und 2 Muttern. Handlich in seine Einzelteile zerlegt und versandfertig verpackt: 36 Stück passen in eine einzige Transportkiste. Vermutlich mehr als 60 Millionen mal produziert. – Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Dann unterhalten wir uns nächsten Montag über IKEA.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.