»Das Objekt: Ein Hochgeschwindigkeitszug. 2 Meter 95 breit, 3 Meter 89 hoch, 200 Meter lang, 1,6 Tonnen schwer, 330 Kilometer pro Stunde schnell. Was stört uns beim Zugfahren? Unpünktlichkeit? Schmutz? Wärme, Kälte und Gerüche? Oder Enge? Es gäbe so viel, was irgendwie besser werden könnte. Aber Alexander Neumeister, der Designer des ICE, hat sich darauf konzentriert, nur ein paar neuralgische Punkte substantiell zu verbessern. Dadurch hat er viel gewonnen. Denn Design scheitert immer dann, wenn es zu viel will oder zu viel soll. Anders herum wird ein Schuh draus: Wenn das Hauptproblem, vom Design her betrachtet, gelöst ist, dann lösen sich auch die Nebenprobleme meist von selbst. Als 1994 die aktuelle Generation des ICE, in der Fachsprache wird er ICE 3 genannt, in Auftrag gegeben wurde, gab es zwei grundlegende technische Neuerungen. Weil die Züge erstmals in ganz Europa verkehren sollten, mussten die Waggons schmaler werden, damit sie auf allen Schienen fahren konnten. Gelinde gesagt: Eine Katastrophe, denn Platzmangel herrschte schon vorher in den Zügen. Die zweite Neuerung hingegen schuf Platz, denn erstmals sollte sich die gesamte Antriebstechnik unter dem Zug befinden. Der Triebwagen am Kopf konnte deshalb auf die Funktion des Steuerns reduziert werden. Alexander Neumeister, der an der legendären Ulmer Hochschule für Gestaltung studiert hatte, schlug kurzerhand vor, Nägel mit Köpfen zu machen und die Reisenden im wörtlichen Sinn über die Schulter des Zugführers blicken zu lassen. Genau das ist heute möglich: Nur durch eine Glasscheibe getrennt, kann man im neuesten ICE unmittelbar hinter dem Steuermann sitzen und ihm beim Fahren zusehen. Für Bürokraten mag das eine überflüssige Spielerei sein. Der Fahrgast jedoch erlebt hier am eigenen Leib, dass die Bahn ihr Versprechen eingelöst hat, welches sie sich auf die Fahnen geschrieben hat: Bahnfahren ist modern, und dazu gehört wesentlich das Erlebnis der Geschwindigkeit. Rund 300 Kilometer pro Stunde kann der ICE heute zurücklegen, allerdings nur auf den wenigsten Strecken, zum Beispiel von Köln nach Frankfurt. Hier verläuft ein Stück parallel zur Autobahn, der direkte Vergleich drängt sich also auf, und es bereitet diebische Freude, am dichten Straßenverkehr gelassen und dennoch in Höchstgeschwindigkeit vorbeizuziehen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Verlagerung der Antriebstechnik unter den Fahrgastraum. Der ICE fährt gewissermaßen allradgetrieben. Das Platzproblem jedoch, das sich aus der Verringerung der Spurbreite ergeben hat, konnte Alexander Neumeister nicht mit einem vergleichsweise großen Wurf lösen. Der Querschnitt der Waggons ist oval. Ihre größte Breite haben sie auf der Sitzhöhe der Fahrgäste. Denn die meiste Zeit sitzen die Passagiere, so dass der Bereich zwischen Schulter und Ellbogen den meisten Platz erfordert. Hier musste das Design hartnäckig um Zentimeter und Millimeter kämpfen, um das Gefühl von Komfort hervorzurufen. Dazu trägt auch die Zone bei, die man in früheren Zügen kaum als Hygienebereich bezeichnen mochte, also der Bereich, in dem sich die Einstiegstüren und die Toiletten befinden. Die gewölbten Fronten erzeugen hier die Illusion von Weiträumigkeit. Eine hübsche Geste für die mehr als 70 Millionen Fahrgäste jährlich, eine Erinnerung an die romantische Vorstellung davon, dass jede Zugfahrt eine Reise durch Raum und Zeit ist.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [118]
»Das Objekt: Ein Hochgeschwindigkeitszug. 2 Meter 95 breit, 3 Meter 89 hoch, 200 Meter lang, 1,6 Tonnen schwer, 330 Kilometer pro Stunde schnell. Was stört uns beim Zugfahren? Unpünktlichkeit? Schmutz? Wärme, Kälte und Gerüche? Oder Enge? Es gäbe so viel, was irgendwie besser werden könnte. Aber Alexander Neumeister, der Designer des ICE, hat sich darauf konzentriert, nur ein paar neuralgische Punkte substantiell zu verbessern. Dadurch hat er viel gewonnen. Denn Design scheitert immer dann, wenn es zu viel will oder zu viel soll. Anders herum wird ein Schuh draus: Wenn das Hauptproblem, vom Design her betrachtet, gelöst ist, dann lösen sich auch die Nebenprobleme meist von selbst. Als 1994 die aktuelle Generation des ICE, in der Fachsprache wird er ICE 3 genannt, in Auftrag gegeben wurde, gab es zwei grundlegende technische Neuerungen. Weil die Züge erstmals in ganz Europa verkehren sollten, mussten die Waggons schmaler werden, damit sie auf allen Schienen fahren konnten. Gelinde gesagt: Eine Katastrophe, denn Platzmangel herrschte schon vorher in den Zügen. Die zweite Neuerung hingegen schuf Platz, denn erstmals sollte sich die gesamte Antriebstechnik unter dem Zug befinden. Der Triebwagen am Kopf konnte deshalb auf die Funktion des Steuerns reduziert werden. Alexander Neumeister, der an der legendären Ulmer Hochschule für Gestaltung studiert hatte, schlug kurzerhand vor, Nägel mit Köpfen zu machen und die Reisenden im wörtlichen Sinn über die Schulter des Zugführers blicken zu lassen. Genau das ist heute möglich: Nur durch eine Glasscheibe getrennt, kann man im neuesten ICE unmittelbar hinter dem Steuermann sitzen und ihm beim Fahren zusehen. Für Bürokraten mag das eine überflüssige Spielerei sein. Der Fahrgast jedoch erlebt hier am eigenen Leib, dass die Bahn ihr Versprechen eingelöst hat, welches sie sich auf die Fahnen geschrieben hat: Bahnfahren ist modern, und dazu gehört wesentlich das Erlebnis der Geschwindigkeit. Rund 300 Kilometer pro Stunde kann der ICE heute zurücklegen, allerdings nur auf den wenigsten Strecken, zum Beispiel von Köln nach Frankfurt. Hier verläuft ein Stück parallel zur Autobahn, der direkte Vergleich drängt sich also auf, und es bereitet diebische Freude, am dichten Straßenverkehr gelassen und dennoch in Höchstgeschwindigkeit vorbeizuziehen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Verlagerung der Antriebstechnik unter den Fahrgastraum. Der ICE fährt gewissermaßen allradgetrieben. Das Platzproblem jedoch, das sich aus der Verringerung der Spurbreite ergeben hat, konnte Alexander Neumeister nicht mit einem vergleichsweise großen Wurf lösen. Der Querschnitt der Waggons ist oval. Ihre größte Breite haben sie auf der Sitzhöhe der Fahrgäste. Denn die meiste Zeit sitzen die Passagiere, so dass der Bereich zwischen Schulter und Ellbogen den meisten Platz erfordert. Hier musste das Design hartnäckig um Zentimeter und Millimeter kämpfen, um das Gefühl von Komfort hervorzurufen. Dazu trägt auch die Zone bei, die man in früheren Zügen kaum als Hygienebereich bezeichnen mochte, also der Bereich, in dem sich die Einstiegstüren und die Toiletten befinden. Die gewölbten Fronten erzeugen hier die Illusion von Weiträumigkeit. Eine hübsche Geste für die mehr als 70 Millionen Fahrgäste jährlich, eine Erinnerung an die romantische Vorstellung davon, dass jede Zugfahrt eine Reise durch Raum und Zeit ist.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.