»Das Produkt: Ein Klang, erzeugt durch den Schlag auf einen Metallgong. Produkte, die von Designern entwickelt wurden, begleiten unseren Alltag. Es kommt aber eigentlich nicht vor, dass wir unseren Alltag von ihnen auch bestimmen lassen. Eigentlich. Die wahrscheinlich einzige Ausnahme bildet der Tagesschau-Gong. Er schlägt mit eiserner Pünktlichkeit um 20 Uhr und hat dem Tagesablauf von zwei Generationen eine feste Struktur gegeben. Wie so oft, so hat sich auch dieses Stück Alltagskultur über Jahrzehnte entwickelt. Schritt für Schritt wurde das schmückende Beiwerk abgelegt, bis nur noch der harte Kern übrig geblieben ist, an dem nichts verändert werden darf. Angefangen hat es 1952, als die Tagesschau in Konkurrenz zur Wochenschau etabliert werden sollte. Der Name war Programm: Gegen den Takt der wöchentlichen Nachrichten, die zehn Minuten lang im Kino gezeigt wurden, wollte der Nordwestdeutsche Rundfunk, der NWDR, tägliche Nachrichten im blutjungen Medium Fernsehen ausstrahlen. Es begann allerdings erst mit drei Sendungen pro Woche. Ebenso wie die Wochenschau war auch die Tagesschau auf Filmmaterial der Nachrichtenagenturen angewiesen. Eigene Kamerateams konnte man sich damals noch nicht leisten. Historiker datieren den Einzug der Moderne in Deutschland auf die zweite Hälfte der 50er Jahre. Und das Fanal der modernen Medienwelt war der Tagesschau-Gong. In dieser Einspielung aus dem Jahr 1956 sind bereits alle Elemente enthalten, die sich als einzelne Bestandteile und in ihrer Reihenfolge unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft eingebrannt haben: Zuerst der Gong, dann die Stimme des Sprechers Karl-Heinz Köpke und zum Schluss die Fanfare aus Trompeten und Hammondorgel. Und dann begann die Sendung üblicherweise mit dem Wort: »Bonn«. Hans Carste war der Komponist der Melodie. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er für Kinofilme und Kabaretts Musik geschrieben und war mit einer Tanzkapelle auf Tournee. In der russischen Kriegsgefangenschaft bis 1948 komponierte er unter anderem die Operette »Lump mit Herz«, die 1952 am Opernhaus Nürnberg uraufgeführt wurde, und die sogenannte »Hammond-Fantasie«. Aus ihren Schlusstakten stammt die Erkennungsmelodie der Tagesschau. Doch besondere Aufmerksamkeit erfuhr der Gong erst, als die Nachkriegsgeneration herangewachsen war und anfing, die Rituale ihrer Eltern in Frage zu stellen. Schon das bloße Anspielen dieser akustischen Marke genügte der Kölner Musikgruppe BAP, um das Weltbild der Elterngeneration zu definieren. Die Tagesschau-Redaktion ließ sich davon nicht beeindrucken. Erst 25 Jahre später, im Jahr 2007, erlaubte sie sich einen Aprilscherz, als sie mitteilen ließ, aus Kostengründen werde der Gong ab sofort nicht mehr vom Chefredakteur live angeschlagen, und auch die Fanfare werde nicht mehr live vom Orchester eingespielt. Ob live oder vom Band: Der Tagesschau-Gong ist in unserem nationalen Biorhythmus als wichtigstes strukturgebendes Element fest verwurzelt.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [142]
»Das Produkt: Ein Klang, erzeugt durch den Schlag auf einen Metallgong. Produkte, die von Designern entwickelt wurden, begleiten unseren Alltag. Es kommt aber eigentlich nicht vor, dass wir unseren Alltag von ihnen auch bestimmen lassen. Eigentlich. Die wahrscheinlich einzige Ausnahme bildet der Tagesschau-Gong. Er schlägt mit eiserner Pünktlichkeit um 20 Uhr und hat dem Tagesablauf von zwei Generationen eine feste Struktur gegeben. Wie so oft, so hat sich auch dieses Stück Alltagskultur über Jahrzehnte entwickelt. Schritt für Schritt wurde das schmückende Beiwerk abgelegt, bis nur noch der harte Kern übrig geblieben ist, an dem nichts verändert werden darf. Angefangen hat es 1952, als die Tagesschau in Konkurrenz zur Wochenschau etabliert werden sollte. Der Name war Programm: Gegen den Takt der wöchentlichen Nachrichten, die zehn Minuten lang im Kino gezeigt wurden, wollte der Nordwestdeutsche Rundfunk, der NWDR, tägliche Nachrichten im blutjungen Medium Fernsehen ausstrahlen. Es begann allerdings erst mit drei Sendungen pro Woche. Ebenso wie die Wochenschau war auch die Tagesschau auf Filmmaterial der Nachrichtenagenturen angewiesen. Eigene Kamerateams konnte man sich damals noch nicht leisten. Historiker datieren den Einzug der Moderne in Deutschland auf die zweite Hälfte der 50er Jahre. Und das Fanal der modernen Medienwelt war der Tagesschau-Gong. In dieser Einspielung aus dem Jahr 1956 sind bereits alle Elemente enthalten, die sich als einzelne Bestandteile und in ihrer Reihenfolge unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft eingebrannt haben: Zuerst der Gong, dann die Stimme des Sprechers Karl-Heinz Köpke und zum Schluss die Fanfare aus Trompeten und Hammondorgel. Und dann begann die Sendung üblicherweise mit dem Wort: »Bonn«. Hans Carste war der Komponist der Melodie. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er für Kinofilme und Kabaretts Musik geschrieben und war mit einer Tanzkapelle auf Tournee. In der russischen Kriegsgefangenschaft bis 1948 komponierte er unter anderem die Operette »Lump mit Herz«, die 1952 am Opernhaus Nürnberg uraufgeführt wurde, und die sogenannte »Hammond-Fantasie«. Aus ihren Schlusstakten stammt die Erkennungsmelodie der Tagesschau. Doch besondere Aufmerksamkeit erfuhr der Gong erst, als die Nachkriegsgeneration herangewachsen war und anfing, die Rituale ihrer Eltern in Frage zu stellen. Schon das bloße Anspielen dieser akustischen Marke genügte der Kölner Musikgruppe BAP, um das Weltbild der Elterngeneration zu definieren. Die Tagesschau-Redaktion ließ sich davon nicht beeindrucken. Erst 25 Jahre später, im Jahr 2007, erlaubte sie sich einen Aprilscherz, als sie mitteilen ließ, aus Kostengründen werde der Gong ab sofort nicht mehr vom Chefredakteur live angeschlagen, und auch die Fanfare werde nicht mehr live vom Orchester eingespielt. Ob live oder vom Band: Der Tagesschau-Gong ist in unserem nationalen Biorhythmus als wichtigstes strukturgebendes Element fest verwurzelt.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.