»Das Produkt: eine Flasche aus opalisiertem Weißglas, zur Seite gebogener Hals, Drehverschluss, 14 cm hoch, 340 Gramm schwer. Jede normale Flasche ist oben geöffnet. Es gibt nur eine, bei der die Öffnung an der Seite liegt, und das ist die Odolflasche. Das Mundwasser Odol ist seit 116 Jahren auf dem Markt. Es wurde 1893 von Karl August Lingner und Richard Seifert erfunden. Der Name bestand, wie es damals en vogue war, aus antiken Begriffen: Aus dem griechischen »Odous« für Zahn und dem lateinischen «Oleum« für Öl. Das späte 19. Jahrhundert wurde von umwälzenden technischen und wissenschaftlichen Fortschritten geprägt. Zum Beispiel hatte Robert Koch 1882 dank technischer Innovationen die Bakterien entdeckt, die Tuberkulose hervorrufen. 1885 wurde für Koch sogar in Berlin eigens eine neue Professur für Hygiene eingerichtet. Nach damaliger Ansicht gelangten Krankheitserreger vor allem über den Mund in den Körper. Die Mundhöhle wurde aus dieser Perspektive zum hygienischen Problem. Wie sollte man sich verhalten, wie sich vor Bakterien schützen, die ja mit bloßem Auge nicht zu sehen sind? Der Dresdner Chemiker Richard Seifert entwickelte die Rezeptur für ein medizinisches Antiseptikum mit ätherischen Ölen. Ein paar Tropfen erzeugten im Mund einen Nachgeschmack von beißend scharfer Pfefferminzfrische. 1891 oder 1892 bot er es seinem Freund, dem 30jährigen Karl August Lingner, zur Vermarktung an. Lingner hatte sich bis dahin mit einer kleinen Firma für Rückenkratzer und Stahllineale über Wasser gehalten. Dieses neue Produkt Odol jedoch traf den Nerv der Zeit. Lingner vertraute aber nicht nur auf die Qualitäten des Produktes. Er gab ihm auch eine Verpackung, die seine Bedeutung verstärkt. Wenn nur ein paar Tropfen des Mundwassers für die tägliche Hygiene genügen, dann kommt es darauf an, dass auch wirklich nur ein paar Tropfen des geradezu kostbaren Elixiers die Flasche verlassen. Einen sparsam dosierenden Verschluss gab es damals noch nicht. Deshalb entschied sich Lingner für eine Flasche, deren Hals zur Seite gebogen war, so dass die Flüssigkeit nicht ausgeschüttet, sondern nur tropfenweise herausgeschüttelt werden kann. Seither gibt es keinen Grund, dieses Produktdesign zu verändern. Zwei weitere Zutaten verwandelten das Mundwasser in einen Zaubertrank der modernen Markenartikelgeschichte. Erstens setzte Lingner schon früh mit aller Energie auf die Kraft der Massenwerbung. Seine Flasche und der Markenname erlangten dadurch weltweite Bekanntheit. So portraitierte 1924 der Maler Stuart Davis die Odolflasche innerhalb einer berühmten Serie von Alltagsgegenständen, die für das Leben in Amerika typisch waren. Zweitens wurde Lingner rasch selbst zur Berühmtheit, zu einem Multimillionär, der für seinen extravaganten Lebensstil, rauschende Feste und uneheliche Kinder bekannt war – der sich aber auch mit riesigen Summen für die Volksaufklärung über Hygiene einsetzte. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden geht auf seine Initiative zurück. Karl August Lingner starb 1916 an Zungenkrebs.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [153]
»Das Produkt: eine Flasche aus opalisiertem Weißglas, zur Seite gebogener Hals, Drehverschluss, 14 cm hoch, 340 Gramm schwer. Jede normale Flasche ist oben geöffnet. Es gibt nur eine, bei der die Öffnung an der Seite liegt, und das ist die Odolflasche. Das Mundwasser Odol ist seit 116 Jahren auf dem Markt. Es wurde 1893 von Karl August Lingner und Richard Seifert erfunden. Der Name bestand, wie es damals en vogue war, aus antiken Begriffen: Aus dem griechischen »Odous« für Zahn und dem lateinischen «Oleum« für Öl. Das späte 19. Jahrhundert wurde von umwälzenden technischen und wissenschaftlichen Fortschritten geprägt. Zum Beispiel hatte Robert Koch 1882 dank technischer Innovationen die Bakterien entdeckt, die Tuberkulose hervorrufen. 1885 wurde für Koch sogar in Berlin eigens eine neue Professur für Hygiene eingerichtet. Nach damaliger Ansicht gelangten Krankheitserreger vor allem über den Mund in den Körper. Die Mundhöhle wurde aus dieser Perspektive zum hygienischen Problem. Wie sollte man sich verhalten, wie sich vor Bakterien schützen, die ja mit bloßem Auge nicht zu sehen sind? Der Dresdner Chemiker Richard Seifert entwickelte die Rezeptur für ein medizinisches Antiseptikum mit ätherischen Ölen. Ein paar Tropfen erzeugten im Mund einen Nachgeschmack von beißend scharfer Pfefferminzfrische. 1891 oder 1892 bot er es seinem Freund, dem 30jährigen Karl August Lingner, zur Vermarktung an. Lingner hatte sich bis dahin mit einer kleinen Firma für Rückenkratzer und Stahllineale über Wasser gehalten. Dieses neue Produkt Odol jedoch traf den Nerv der Zeit. Lingner vertraute aber nicht nur auf die Qualitäten des Produktes. Er gab ihm auch eine Verpackung, die seine Bedeutung verstärkt. Wenn nur ein paar Tropfen des Mundwassers für die tägliche Hygiene genügen, dann kommt es darauf an, dass auch wirklich nur ein paar Tropfen des geradezu kostbaren Elixiers die Flasche verlassen. Einen sparsam dosierenden Verschluss gab es damals noch nicht. Deshalb entschied sich Lingner für eine Flasche, deren Hals zur Seite gebogen war, so dass die Flüssigkeit nicht ausgeschüttet, sondern nur tropfenweise herausgeschüttelt werden kann. Seither gibt es keinen Grund, dieses Produktdesign zu verändern. Zwei weitere Zutaten verwandelten das Mundwasser in einen Zaubertrank der modernen Markenartikelgeschichte. Erstens setzte Lingner schon früh mit aller Energie auf die Kraft der Massenwerbung. Seine Flasche und der Markenname erlangten dadurch weltweite Bekanntheit. So portraitierte 1924 der Maler Stuart Davis die Odolflasche innerhalb einer berühmten Serie von Alltagsgegenständen, die für das Leben in Amerika typisch waren. Zweitens wurde Lingner rasch selbst zur Berühmtheit, zu einem Multimillionär, der für seinen extravaganten Lebensstil, rauschende Feste und uneheliche Kinder bekannt war – der sich aber auch mit riesigen Summen für die Volksaufklärung über Hygiene einsetzte. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden geht auf seine Initiative zurück. Karl August Lingner starb 1916 an Zungenkrebs.« Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.