»Mehr als drei Jahre lang habe ich gemeinsam mit Jörg Biesler im Hörfunkprogramm des WDR an jedem Montag eine Kolumne über Erzeugnisse von Gestaltung veröffentlicht, die sich als ›Designklassiker‹ qualifiziert haben. Offiziell hieß die Serie, die in der Sendung Mosaik auf WDR 3 ausgestrahlt wurde, ›Design im Dasein‹. Nun könnte man fragen, wo Design denn sonst sein sollte wenn nicht im Dasein. Aber dieser Einwand geht am Kern des knapp kalauernden Titels vorbei. Offensichtlich bezeichnet Design in der deutschen Umgangssprache ein besonderes Phänomen und keineswegs eine Selbstverständlichkeit des Alltags: Design ist nicht das normale Dasein. In diesem Verständnis bezeichnet der Begriff Design vielmehr die Beobachtung, dass ein Gerät oder ein Plakat ganz besonders gestaltet ist, und nicht einfach nur so gemacht, dass es funktioniert. Designer werden — hoffentlich — über dieses Klischee den Kopf schütteln. Das ändert aber nichts daran, dass die meisten Menschen, die sich nicht mit Designtheorie beschäftigt haben, genau diese Vorstellung über Design teilen: Design, das ist ein Begriff für das Besondere. Ebenso verhält es sich auch mit dem Begriff Klassiker. Man könnte sich wie Don Quichote aufmachen und versuchen, alle Menschen davon zu überzeugen, dass sie diesen Begriff nur noch auf Werke des deutschen Bildungskanons anzuwenden haben. Ein fruchtloses Unterfangen. Denn der Begriff vermittelt einen Gehalt, der für jedermann einsichtig ist: Ein Klassiker ist etwas, das sich über Jahrzehnte und Generationen hinweg als nützlich, wertvoll, gültig oder richtig erwiesen hat. Dieses Qualitätsurteil kann auf ein Theaterstück genauso zutreffen wie auf eine Küchenuhr. Nach 150 ausgestrahlten ›Designklassiker‹-Folgen ging zum ersten Mal bei der Redaktion der Wunsch einer Hörerin ein: Sie regte an, einen Beitrag über die Küchenuhr Max Bills zu verfassen. Das konnte kein Zufall sein. Besteht der rote Faden der Beiträge doch darin, den unmerklichen Fluss der Zeit anzuhalten, indem wir einen Blick zurückwerfen und uns der alltäglichen Dinge, die uns umgeben, bewusst werden. Dieses Bewusst-Sein braucht Erinnerung. Die Erzählung der Entstehungsgeschichten hat noch einen zweiten Effekt: Design wird vom Sockel genommen und als Selbstverständlichkeit des modernen Alltags plausibel gemacht. Denn der Entstehungsprozess der vorgestellten Beispiele hat meist überhaupt nichts mit dem Vorurteil zu tun, Design sei bloß die äußere Form, die ein exaltierter Künstler oder asketischer Architekt in genialischer Geste einer Brille und einem Stuhl verleiht. Design verbindet ein eigentümliches Verhältnis zur Erinnerung. Design tritt als Phänomen der modernen Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA in Erscheinung. Es ist ein substantieller Bestandteil der arbeitsteiligen Industrialisierung. Sämtliche Reformbewegungen der Moderne, von Arts and Crafts bis zur Memphis-Postmoderne, strebten danach, eine jeweils neue Gesellschaft auch mit neuen Formen zu gestalten. Mit ihrem Design brachten sie ihre Kritik an ihrer Gegenwart, die jeweils auf tradierter Vergangenheit beruhte, in neue Formen: Die Protagonisten der gesellschaftsreformerischen Impulse setzten sich von den Autoritäten ihrer Zeit ab und entwarfen Formen für ein besseres Morgen als Alternative zum kritisierten Jetzt. Die Provokation der Treppe des Bauhaus-Gebäudes von Walter Gropius in Dessau wird nur verständlich, wenn man sich die damals üblichen Treppenhäuser von Schlössern und Residenzen wie etwa in Weimar vor Augen hält. Die parodistisch überzeichnete Argumentation Adolf Loos’, Ornament sei Verbrechen, weil nur Verbrecher sich mit Tätowierungen schmücken, wie ein Besuch im Gefängnis zeige, darf niemals ohne den Zusammenhang gelesen werden, dass zu seiner Zeit die überdekorierten Räume des Historismus bei Auftraggebern beliebt waren. Die Erinnerung an ihren zeitlichen Kontext geht jedoch nach einer Generation verloren. Der Widerspruch verliert seinen Sinn, es bleibt nur noch das Gebäude, das Objekt, die Überschrift. Wenn der Gegenentwurf sich gegen seine Zeit durchgesetzt hat, degeneriert das Wesen des Entwurfs zur Banalität, zum Kitsch, zur Parole. In Ausnahmefällen, wenn die Götter der Rezeption gnädig gewesen sind, verwandelt sich das avantgardistische Design nach zwei Generationen zum festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, zum kanonisierten formalen Allgemeingut, zum Klassiker. (Gerda Breuer hat diese Erfindung des Marketing in ihrem Buch über den modernen Klassiker mustergültig analysiert.) Spätestens dann provoziert es die Enkel, seine Existenzberechtigung in Frage zu stellen und über Alternativen nachzudenken. Der Kreislauf beginnt von neuem. Dieser Sachverhalt entbehrt nicht der Ironie. Strebten die schrittmachenden Impulsgeber der Designgeschichte doch auch immer danach, sich vom Konsumkarussel der Mode zu unterscheiden. An der Ablehnung der kurzfristigen Mode lässt sich ebenfalls das merkwürdige Verhältnis des Phänomens Design zur Zeit beobachten. Design will — zumindest überdurchschnittlich häufig — eine endgültige Antwort auf eine Frage liefern, die in der Zeit aktuell ist. Design will insofern die Zeit anhalten. Dennoch ist schon nach wenigen Jahren feststellbar, wie sehr sämtliche Entwürfe den modischen Einflüssen ihrer Zeit verpflichtet sind. Design altert. Meist nicht einmal in Würde. Das betrifft nicht nur formale Eigenschaften, sondern auch haptische Qualitäten des Materials und der Verarbeitung: Patina ist eine Dimension, die ein Denken in langen Zeiträumen jenseits der Quartalsabschlüsse voraussetzt. Wenn sie doch einmal ansetzt, veredelt sie den Produktklassiker zum Vintage, das als höchstes Auszeichnungsmerkmal den monetären Wert auf Auktionen steigert. Insofern ist auch die Phrase von der Langlebigkeit eines Entwurfs äußerst kritisch zu hinterfragen: Stühle, wollt Ihr ewig leben? Die Erinnerung ist, in der Ausprägung als Sentimentalität, heute ein wichtiger kommerzieller Antrieb im Design. Was wir aus unserer Kindheit kennen und für zwanzig Jahre aus dem Auge verloren haben, lebt plötzlich wieder auf: Eine Eissorte, ein Schulranzen, ein Spielzeug. Solche Untote des Produktlebenszyklus nutzen unsere Vertrautheit und appellieren an uns, sie jetzt zu neuerdings hohen Preisen zu kaufen, denn wir werden unseren Kindern doch nicht vorenthalten wollen, in ihren Genuss zu kommen, so wie wir selbst als Kinder mit ihnen umgehen durften. Die Unternehmen spielen mit unserer verklärten Erinnerung und frischen die alt gewordenen Erscheinungen geschickt mit ein paar Handgriffen optisch auf. Aus verstaubt wird cool. Und Coolness erweist sich in unserer multioptionalen Konsumkultur als Ausfluss von Kennerschaft. Dabei ist es gleichgültig, ob die originale Küchenuhr von Max Bill an der Wand hängt oder ein Plagiat bzw. eine Uhr, die ihr im Duktus ähnelt: Der Kenner zeigt sich auch daran, dass er sich bewusst gegen den Klassiker entscheidet, welcher aber in der Ähnlichkeit auch immer zu erkennen ist. Die vermutlich einflussreichste Rolle bei der permanenten Aktualisierung der Erinnerung spielen Designmuseen. Als institutionalisiertes Gedächtnis fällen sie ein wesentliches Urteil darüber, welche Entwürfe unserer Aufmerksamkeit durch Vergessen entschwinden. Der weiße Sockel im Museum verleiht eine Aura, die Gold wert ist. Welche Ausschnitte aus der Wirklichkeit sie präsentieren, verdient deshalb unsere kritische Unvoreingenommenheit. So soll in Weimar, dem ersten Standort des Bauhauses, in den nächsten Jahren ein neues Designmuseum errichtet werden. Gibt es nicht schon genug Erinnerungsorte für die Großmutter des Designs in Deutschland? Der Logik dieser Frage folgen aber nicht die Überlegungen, die zu den laufenden Planungen geführt haben. Vielmehr muss der Strom der Touristen auch in ein Sammelbecken mit dem Etikett Designklassiker gelenkt werden. Dahinter steht als Antriebskraft, welche Pointe, die Stiftung Weimarer Klassik.«
Publikation # [328]
»Mehr als drei Jahre lang habe ich gemeinsam mit Jörg Biesler im Hörfunkprogramm des WDR an jedem Montag eine Kolumne über Erzeugnisse von Gestaltung veröffentlicht, die sich als ›Designklassiker‹ qualifiziert haben. Offiziell hieß die Serie, die in der Sendung Mosaik auf WDR 3 ausgestrahlt wurde, ›Design im Dasein‹. Nun könnte man fragen, wo Design denn sonst sein sollte wenn nicht im Dasein. Aber dieser Einwand geht am Kern des knapp kalauernden Titels vorbei. Offensichtlich bezeichnet Design in der deutschen Umgangssprache ein besonderes Phänomen und keineswegs eine Selbstverständlichkeit des Alltags: Design ist nicht das normale Dasein. In diesem Verständnis bezeichnet der Begriff Design vielmehr die Beobachtung, dass ein Gerät oder ein Plakat ganz besonders gestaltet ist, und nicht einfach nur so gemacht, dass es funktioniert. Designer werden — hoffentlich — über dieses Klischee den Kopf schütteln. Das ändert aber nichts daran, dass die meisten Menschen, die sich nicht mit Designtheorie beschäftigt haben, genau diese Vorstellung über Design teilen: Design, das ist ein Begriff für das Besondere. Ebenso verhält es sich auch mit dem Begriff Klassiker. Man könnte sich wie Don Quichote aufmachen und versuchen, alle Menschen davon zu überzeugen, dass sie diesen Begriff nur noch auf Werke des deutschen Bildungskanons anzuwenden haben. Ein fruchtloses Unterfangen. Denn der Begriff vermittelt einen Gehalt, der für jedermann einsichtig ist: Ein Klassiker ist etwas, das sich über Jahrzehnte und Generationen hinweg als nützlich, wertvoll, gültig oder richtig erwiesen hat. Dieses Qualitätsurteil kann auf ein Theaterstück genauso zutreffen wie auf eine Küchenuhr. Nach 150 ausgestrahlten ›Designklassiker‹-Folgen ging zum ersten Mal bei der Redaktion der Wunsch einer Hörerin ein: Sie regte an, einen Beitrag über die Küchenuhr Max Bills zu verfassen. Das konnte kein Zufall sein. Besteht der rote Faden der Beiträge doch darin, den unmerklichen Fluss der Zeit anzuhalten, indem wir einen Blick zurückwerfen und uns der alltäglichen Dinge, die uns umgeben, bewusst werden. Dieses Bewusst-Sein braucht Erinnerung. Die Erzählung der Entstehungsgeschichten hat noch einen zweiten Effekt: Design wird vom Sockel genommen und als Selbstverständlichkeit des modernen Alltags plausibel gemacht. Denn der Entstehungsprozess der vorgestellten Beispiele hat meist überhaupt nichts mit dem Vorurteil zu tun, Design sei bloß die äußere Form, die ein exaltierter Künstler oder asketischer Architekt in genialischer Geste einer Brille und einem Stuhl verleiht. Design verbindet ein eigentümliches Verhältnis zur Erinnerung. Design tritt als Phänomen der modernen Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA in Erscheinung. Es ist ein substantieller Bestandteil der arbeitsteiligen Industrialisierung. Sämtliche Reformbewegungen der Moderne, von Arts and Crafts bis zur Memphis-Postmoderne, strebten danach, eine jeweils neue Gesellschaft auch mit neuen Formen zu gestalten. Mit ihrem Design brachten sie ihre Kritik an ihrer Gegenwart, die jeweils auf tradierter Vergangenheit beruhte, in neue Formen: Die Protagonisten der gesellschaftsreformerischen Impulse setzten sich von den Autoritäten ihrer Zeit ab und entwarfen Formen für ein besseres Morgen als Alternative zum kritisierten Jetzt. Die Provokation der Treppe des Bauhaus-Gebäudes von Walter Gropius in Dessau wird nur verständlich, wenn man sich die damals üblichen Treppenhäuser von Schlössern und Residenzen wie etwa in Weimar vor Augen hält. Die parodistisch überzeichnete Argumentation Adolf Loos’, Ornament sei Verbrechen, weil nur Verbrecher sich mit Tätowierungen schmücken, wie ein Besuch im Gefängnis zeige, darf niemals ohne den Zusammenhang gelesen werden, dass zu seiner Zeit die überdekorierten Räume des Historismus bei Auftraggebern beliebt waren. Die Erinnerung an ihren zeitlichen Kontext geht jedoch nach einer Generation verloren. Der Widerspruch verliert seinen Sinn, es bleibt nur noch das Gebäude, das Objekt, die Überschrift. Wenn der Gegenentwurf sich gegen seine Zeit durchgesetzt hat, degeneriert das Wesen des Entwurfs zur Banalität, zum Kitsch, zur Parole. In Ausnahmefällen, wenn die Götter der Rezeption gnädig gewesen sind, verwandelt sich das avantgardistische Design nach zwei Generationen zum festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, zum kanonisierten formalen Allgemeingut, zum Klassiker. (Gerda Breuer hat diese Erfindung des Marketing in ihrem Buch über den modernen Klassiker mustergültig analysiert.) Spätestens dann provoziert es die Enkel, seine Existenzberechtigung in Frage zu stellen und über Alternativen nachzudenken. Der Kreislauf beginnt von neuem. Dieser Sachverhalt entbehrt nicht der Ironie. Strebten die schrittmachenden Impulsgeber der Designgeschichte doch auch immer danach, sich vom Konsumkarussel der Mode zu unterscheiden. An der Ablehnung der kurzfristigen Mode lässt sich ebenfalls das merkwürdige Verhältnis des Phänomens Design zur Zeit beobachten. Design will — zumindest überdurchschnittlich häufig — eine endgültige Antwort auf eine Frage liefern, die in der Zeit aktuell ist. Design will insofern die Zeit anhalten. Dennoch ist schon nach wenigen Jahren feststellbar, wie sehr sämtliche Entwürfe den modischen Einflüssen ihrer Zeit verpflichtet sind. Design altert. Meist nicht einmal in Würde. Das betrifft nicht nur formale Eigenschaften, sondern auch haptische Qualitäten des Materials und der Verarbeitung: Patina ist eine Dimension, die ein Denken in langen Zeiträumen jenseits der Quartalsabschlüsse voraussetzt. Wenn sie doch einmal ansetzt, veredelt sie den Produktklassiker zum Vintage, das als höchstes Auszeichnungsmerkmal den monetären Wert auf Auktionen steigert. Insofern ist auch die Phrase von der Langlebigkeit eines Entwurfs äußerst kritisch zu hinterfragen: Stühle, wollt Ihr ewig leben? Die Erinnerung ist, in der Ausprägung als Sentimentalität, heute ein wichtiger kommerzieller Antrieb im Design. Was wir aus unserer Kindheit kennen und für zwanzig Jahre aus dem Auge verloren haben, lebt plötzlich wieder auf: Eine Eissorte, ein Schulranzen, ein Spielzeug. Solche Untote des Produktlebenszyklus nutzen unsere Vertrautheit und appellieren an uns, sie jetzt zu neuerdings hohen Preisen zu kaufen, denn wir werden unseren Kindern doch nicht vorenthalten wollen, in ihren Genuss zu kommen, so wie wir selbst als Kinder mit ihnen umgehen durften. Die Unternehmen spielen mit unserer verklärten Erinnerung und frischen die alt gewordenen Erscheinungen geschickt mit ein paar Handgriffen optisch auf. Aus verstaubt wird cool. Und Coolness erweist sich in unserer multioptionalen Konsumkultur als Ausfluss von Kennerschaft. Dabei ist es gleichgültig, ob die originale Küchenuhr von Max Bill an der Wand hängt oder ein Plagiat bzw. eine Uhr, die ihr im Duktus ähnelt: Der Kenner zeigt sich auch daran, dass er sich bewusst gegen den Klassiker entscheidet, welcher aber in der Ähnlichkeit auch immer zu erkennen ist. Die vermutlich einflussreichste Rolle bei der permanenten Aktualisierung der Erinnerung spielen Designmuseen. Als institutionalisiertes Gedächtnis fällen sie ein wesentliches Urteil darüber, welche Entwürfe unserer Aufmerksamkeit durch Vergessen entschwinden. Der weiße Sockel im Museum verleiht eine Aura, die Gold wert ist. Welche Ausschnitte aus der Wirklichkeit sie präsentieren, verdient deshalb unsere kritische Unvoreingenommenheit. So soll in Weimar, dem ersten Standort des Bauhauses, in den nächsten Jahren ein neues Designmuseum errichtet werden. Gibt es nicht schon genug Erinnerungsorte für die Großmutter des Designs in Deutschland? Der Logik dieser Frage folgen aber nicht die Überlegungen, die zu den laufenden Planungen geführt haben. Vielmehr muss der Strom der Touristen auch in ein Sammelbecken mit dem Etikett Designklassiker gelenkt werden. Dahinter steht als Antriebskraft, welche Pointe, die Stiftung Weimarer Klassik.«
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