»Den alles umspannenden Zusammenhang, in dem sich unser Planet Erde befindet, benennen wir mit drei Begriffen: Kosmos, Universum und Weltall. Speziell mit dem kurzen Ausdruck All ist alles gesagt. Die Aussage lässt sich nicht weiter verdichten. Im griechischen Begriff »Kosmos« klingt die Ordnung an, von der wir Menschen glauben wollen, dass es sie geben muss, weil wir allem einen Sinn unterstellen, wo wir eine Ordnung erkennen. Im Unterschied dazu bezeichnet der griechische Begriff »Chaos« die Unordnung. (Interessanterweise wird »Chaos« in der Systemtheorie als Fachbegriff für ein besonders dynamisches System verwendet.) Der lateinische Begriff »Universum« enthält diese wertende Konnotation nicht, er drückt nüchtern die Tatsache der unendlichen Allheit aus, des umfassenden Allseins. Wenn wir von der Welt sprechen, dann können wir beides meinen: Das All oder auch nur die Erde. Weil wir uns nicht vorstellen können, dass sie nur ein unbedeutender, zufällig vor 4,6 Mrd. Jahren entstandener Krümel ist am Ende der Sackgasse eines beliebigen Sonnensystems innerhalb einer von unendlich vielen Galaxien, sagt uns unser Gefühl, dass sich die Welt im Grunde um uns dreht wie das Möbelsystem um den Verbindungsknoten – ganz egal, wie energisch unser Verstand auch widerspricht. Ein junges Paar aus Chicago ist zum Picknick verabredet. An einem sonnigen Nachmittag lassen sie sich auf ihrer Decke am Ufer des Lake Michigan nieder. Die Frau beginnt damit, zu lesen, während sich der Mann ausstreckt und einschläft. Wir sehen die beiden aus einem Meter Entfernung, allerdings befinden wir uns nicht neben, sondern über ihnen. Dieses Bild zählt zu den berühmtesten der Designgeschichte, es ist der Beginn eines Kurzfilms von Ray und Charles Eames. Ihr neun Minuten langes Werk ist in der Fassung von 1977 unter dem Titel »Powers of Ten« bekannt geworden. Dabei handelt es sich um die überarbeitete und vom Elektronikkonzern International Business Machines (IBM) finanzierte Version eines Films, den die Eheleute schon 1968 als Grobfassung bearbeitet hatten. Ihre Grundlage war ein Buch des holländischen Pädagogen Kees Boeke, der 1957 die Dimensionen des Universums in 40 Schritten bzw. Bildern visualisierte. »Powers of Ten« veranschaulicht nicht nur das Big Picture der irdischen Existenz, die Verortung des Menschen im Gefüge des Kosmos zwischen den grenzenlosen Weiten des Weltalls und den Quarks als elementaren Bausteinen. Der Film macht auch ungeheure Parallelen nachvollziehbar. Denn einzelne Einstellungen bei der Kamerafahrt durch den Outer Space zeigen ein unübersichtliches Chaos von einzelnen leuchtenden Punkten, die sich im nächsten Maßstabsprung zu einer spiralförmigen Galaxie formen und dann wieder zu einem unendlichen Nichts auflösen, weil die Objekte so weit voneinander entfernt sind. Und Verblüffung stellt sich ein, wenn vergleichbare Bilder auch bei der Kamerafahrt ins Innere des Menschen erscheinen. An diesen Parallelen wird erkennbar: Ein System ist eine Bedeutung gebende Konstruktion. Ob wir etwas als System oder als Chaos wahrnehmen, ist eine Frage unseres Standpunkts und unserer Perspektive. Diese Erkenntnis wird mit jedem Blick in den nächtlichen Sternenhimmel bestätigt. Dort sehen wir nur ein überwältigendes Chaos (dem wir mit der Hilfe von Sternbildern eine Ordnung und Bedeutung gebende Struktur zuweisen). Gleichzeitig wissen wir, dass sich die Erde in Beziehung zu anderen Himmelskörpern befindet, und diesen Verbund nennen wir Sonnensystem – auch wenn wir die zusammengefügte Struktur wegen unserer Position und unserer mangelnden Sehkraft nicht mit bloßem Auge wahrnehmen. In der Ausstellung »SYSTEM DESIGN. Über 100 Jahre Chaos im Alltag« wird die Beziehung zwischen dem Systemgedanken und dem Design untersucht. Beide Begriffe, System und Design, sind gleichermaßen alltäglich wie auch unscharf und deshalb missverständlich. Mit System ist hier nicht das Planvolle im allgemeinsten Sinn gemeint. Der Begriff System wird vielmehr auf seinen Bedeutungskern konzentriert. Er bezeichnet einen spezifischen Verbund: Dieser Verbund bewirkt ein besseres Ergebnis, er leistet mehr als die Summe der unverbundenen Elemente leisten könnte, wenn es möglich wäre, eine solche Addition durchzuführen. Mit Design wiederum ist nicht Gestaltung im allgemeinsten Sinn gemeint. Steinzeitliche Höhlenmalerei und mittelalterlicher Buchdruck sind zweifellos kein Design, es sei denn, der Begriff verlöre jede kennzeichnende Trennschärfe. Design ist aber zweifellos auch nicht nur der Typus von Gestaltung, der lediglich Oberflächen verbeult und grell lackiert. Design dient hier als relativ klar operationalisierbarer, wertneutraler Begriff für das moderne Phänomen der Gestaltung in den arbeitsteiligen Abläufen der industrialisierten Gesellschaften für eine kommerziell ausgerichtete Serienproduktion. Er bezieht sich sowohl auf Gegenstände als auch auf Botschaften und Prozesse und erhebt Anspruch auf substantielle Abgrenzung zur Architektur, zum Handwerk und zur Kunst – auch wenn unbestritten ist, dass die Grenzen zu diesen gestalterischen Feldern fließend sind (und die kategoriale Zuweisung im Einzelfall nicht sonderlich relevant sein mag). Diesen Übergang veranschaulicht ein Paar Kugeln für das südfranzösische Spiel »Pétanque«. Bis in die 1930er Jahre wurden Pétanque-Kugeln ausschließlich in Handarbeit hergestellt. Die »Boule cloutée« wurde meist aus dem Holz des Buchsbaums gedrechselt und mit bis zu 1.200 Nägeln beschlagen. Die flachen Köpfe der Metallnägel überdecken sich gegenseitig, so dass das darunter liegende Holz vollständig geschützt ist. Félix Rofritsch gilt als erster Unternehmer, der 1904 in Marseille eine Manufaktur für die handwerkliche Serienfertigung der genagelten Holzkugeln etablierte. 1923 begann die maschinelle Fertigung von Pétanque-Kugeln in Lyon durch Vincent Mille und Paul Courtieu. Das patentierte Verfahren zur industriellen Produktion von hohlen, geschmiedeten Stahlkugeln, die aus zwei Hälften zusammengeschweißt werden – wie es im Wesentlichen bis heute praktiziert wird –, wurde 1928 von Jean Blanc und Louis Tarchier erfunden. So verstanden, gibt es vor der Industrialisierung selbstverständlich Systeme, aber kein modernes Design. Die anthropologische Sehnsucht danach, Ordnung zu schaffen und durch Übersicht verfügbar zu machen, wird in dieser Ausstellung exemplarisch präsentiert durch das Einzelstück eines kunsthandwerklich hochwertig gefertigten Kabinettschranks aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, der für eine Sammlung von Mineralien gedient haben mag. Goethes Farbenlehre ist ein Versuch, die Vielfalt der Erscheinungen in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen, also das Vorhandene durch Deutung zu einem geschlossenen System zusammenzufügen. Im späten 19. Jahrhundert knüpft der deutsche Physiologe Ewald Hering an Goethes Theorien an und entwickelt die Grundlagen für das Farbsystem, das der Schwede Anders Hård 1969 als Natural Color System (NCS) vorstellte. Der zentrale Ausstellungsbau für die »Great Exhibition« in London 1851, die wir heute als erste Weltausstellung bezeichnen, markiert einen herausragenden Punkt in der modernen Designgeschichte. Der »Crystal Palace« war im Wesentlichen ein riesiges Gewächshaus, das aus der Aneinanderreihung von quadratischen Modulen mit 24 Fuß Seitenlänge (ca. 7,3 m) hervorging. Das gesamte Gebäude mit einer Grundfläche von 615 x 150 Metern wurde aus standardisierten, industriell vorgefertigen Elementen (Glasflächen auf einer Gusseisen-Konstruktion) innerhalb weniger Monate im Londoner Hyde Park errichtet. Mit der »Great Exhibition« wurde offensichtlich, worin gleichermaßen Fluch und Segen der industriellen Serienfertigung bestehen. Dem Publikum wurden etwa 100.000 Gegenstände gezeigt, von kleinen Haushaltsgegenständen bis zu monströs anmutenden Maschinen. Der Schock für die Besucher bestand darin, von einer nie dagewesenen Flut autonomer Dinge überwältigt zu werden. Sie waren darüber entsetzt, dass all diese Gegenstände, die in den Fabriken unablässig produziert wurden, gestalterisch überhaupt nicht zueinander passten. Plötzlich war für jedermann offenbar, dass es keine ästhetische Zusammengehörigkeit im Sinne eines Stils gab, welche die vom Menschen geschaffene Umgebung ordnete (100 Jahre später lautete der sprichwörtliche Anspruch: vom Kaffeelöffel bis zu Stadt), sondern lediglich ein Chaos der kommerziell und geschmäcklerisch angetriebenen Warenwelt. Im Design wurden anfangs vorwiegend Aufgaben bearbeitet, bei denen das einzelne Produkt im Mittelpunkt stand, losgelöst von seinem jeweiligen Zusammenhang. Ein beispielhafter Entwurf ist etwa die so genannte Konturflasche, die Alexander Samuelson 1915 für Coca-Cola entworfen hat. Es ist ein Gegenstand, der sich selbst genügt, ein autonomes Objekt, ohne Bezug zu seinem Kontext. Das legendäre Briefing für das Design lautete, die Flasche solle selbst dann wiedererkennbar sein, wenn sie in Splittern zerbrochen sei. Das Briefing lautete nicht, die Flasche möge sich so klug wie möglich in ihr Umfeld einfügen, sondern sich ganz im Gegenteil auch dann noch dagegen behaupten, wenn sie zerstört ist. Ein weiteres Exponat in der Ausstellung für das Design autonomer Objekte ist der Prototyp einer Espressomaschine von Bruno Munari und Enzo Mari, ein außergewöhnliches Objekt, dessen Erscheinen auf der Theke einer italienischen Kaffeebar der späten 1950er so fremd gewirkt haben muss wie ein Ufo, zugleich schroff abweisend und farbenprächtig schillernd anziehend. Dieser »Diamante« wollte nichts als ausstrahlen. Ganz gewiss sollte er sich nicht integrieren. Das Potenzial zur Effizienz-Optimierung, das der industriellen Serienfertigung zu eigen ist, wurde im Design schon früh genutzt. Wenn ein Stuhl einmal entworfen ist, liegt der Gedanke nah, ihn nicht nur in einer einzigen, sondern gleich in drei oder vier Größen zu produzieren. Aus einem autonomen Objekt wird dadurch eine Reihe. Marcel Breuers Beistelltische aus Stahlrohr, von Thonet gefertigt, verkörpern diesen Designtypus exemplarisch. Auch die früheren Arbeiten von Peter Behrens für die AEG sind von diesem Seriengedanken geprägt: Seine Titelbilder der monatlich erschienenen »Mitteilungen der Berliner Elektricitäts-Werke« beruhen auf einem einmal entwickelten grafischen Ornament, das durch farbliche Permutation so variiert wird, dass eine Reihe entsteht. Wenn die Skalierung nicht bloß linear in einer Richtung erfolgt, sondern wenn auch in der zweiten Flächen- und in der dritten Körperdimension maßbezügliche Abhängigkeiten und Abstimmungen erzeugt werden, entsteht ein Programm. Idealtypisch repräsentiert dies Wilhelm Wagenfelds Kubus-Glasgeschirr. Aber auch der Rahmen, innerhalb dessen überhaupt gestaltet wird, ist als Maßordnung angelegt: Zu den gebräuchlichsten Ordnungen zählt die DIN 476, in der die vereinheitlichten Papierformate festgelegt sind. Komplexer wird es, wenn der programmatische Anspruch durch formal-ästhetische Bezugnahme verwirklicht wird. Hierzu zählen Josef Hoffmanns »Gitterwerk«-Entwürfe, bei denen er das Quadrat als nüchterne gestalterische Grundeinheit, als vereinheitlichendes Ornament nutzt. Ähnlich zu verstehen sind ebenso die Möbel-Programme Ferdinand Kramers oder Marcel Breuers. Darüber hinaus gelang es im Produktdesign dem Elektrogerätehersteller Braun AG, mit den Entwürfen u.a. von Hans Gugelot als externem Designer und Reinhold Weiss als betriebsinternem Designer ikonische Produkte auf den Markt zu bringen, deren programmatischer Anspruch sich, als Ausdruck eines durch und durch freiheitlichen, vernünftigen und sachlichen Menschenbildes, auf die Formung einer neuen Gesellschaft erstreckte. Das Programm, das uns von Kindesbeinen an vertraut ist, sind Bauklötze. Stapeln wir acht Stück aufeinander, so beginnt der Turm zu wackeln. Bei 12 stürzt alles ein. Ein analoges System entsteht, wenn ein solches Programm nicht nur modular aufgebaut ist, sondern gleichzeitig die Module miteinander verbunden werden können. Das setzt voraus, dass erstens seine Bestandteile auf wenige Grundelemente vereinfacht werden und zweitens ein Verbindungselement eingeführt wird. Der kleine Noppen, der seit 1958 auf der Oberseite der Lego-Steine angebracht ist, markiert diesen Übergang des Holzbaukastens vom Programm zum System. Damit sind auf einen Schlag exponentiell vielfache, individuelle Anwendungen möglich. Die Verbindung etabliert das System. Der sichtbare Knoten von USM-Haller (1963) zählt zu den bekanntesten Beispielen im Möbeldesign. Die ersten Ansätze für Systemdesign finden sich aber schon früher: Ab 1907 gestaltete Peter Behrens für die Berliner AEG sämtliche Erzeugnisse von der Briefmarke bis zur Fabrik und begründete damit das erste Corporate Design eines Unternehmens. Für die Fotokamera »Leica 1a« entwickelte Oskar Barnack 1925 erstmals eine systemetablierende Trennung von Gehäuse und Objektiv. Ende der 1920er Jahre beginnen Gerd Arntz und Otto Neurath in Wien mit der Arbeit an ihrem System mit dem Akronym »ISOTYPE« zur bildgestützten Aufklärung der breiten Bevölkerung über komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge, das auf wenigen standardisierten grafischen Elementen beruht: Eine Bildsprache, die zu den heute gebräuchlichen Icons geführt hat. Mit dem Aufstieg des modernen Designs in den westlichen Industriegesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbreitet sich zugleich auch der Systemgedanke im Design. Parallel gewinnen intellektuelle Ansätze wie die Kybernetik und die Systemtheorie an Anziehungskraft – auch im Design. Insbesondere die HfG Ulm entwickelt sich nach der Trennung von Max Bill ab 1957 zum international führenden Zentrum für die Bündelung, Verarbeitung und Ausstrahlung dieser Impulse. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht die gestalterische Bewältigung der beiden Ziele, erstens durch Integration eine allgemeingültige Bedeutung zu stiften, und zweitens durch Rationalisierung aus der Kombination weniger Elemente eine effiziente und günstige Massenproduktion für Alltagsgerätschaften und -botschaften zu ermöglichen. Der Anstrich des Objektiven, zwangsläufig Richtigen, den die Sprache der neuen Wissenschaftler transportierte, war darüber hinaus von besonderer Anziehungskraft für diese private Hochschule, weil sie unter permanentem Legitimationsdruck stand. In der Folge, nach der Schließung der HfG Ulm 1968, resultierte allzu oft aus dem nicht mehr hinterfragten Anspruch auf Zwangsläufigkeit eine Arroganz der Zwanghaftigkeit: Möbelsysteme der 1970er Jahre verkörpern bisweilen eine monströse Banalität als Folge bürokratischer und technischer Sachzwänge in Kombination mit ökonomischer Optimierung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Fehlentwicklung ist das Konzept »action office« des amerikanischen Designers George Nelson. Die erste Version von 1964 besteht noch aus Einzelelementen (Tische, Regale, Stehhocker), die den humanen Geist von Mobilität, Flexibilität und individueller Anpassung atmen. Doch die Folgeversionen, von denen sich Nelson distanzierte, mutierten zu uniformen Büro-Arbeitsplatzkästen, den berüchtigten so genannten »cubicles«, die das Heer der Angestellten im Großraumbüro in Reih und Glied zwingen. Die Zwiespältigkeit der modernen Zukunftsvorstellungen, wie sie durch Stanley Kubricks Film »2001 – A Space Odyssee« für das kollektive Bewusstsein geformt wurden, sind exemplarisch in dem Foto vorweg genommen, das ein Büro mit Großrechnern von IBM zeigt: Der Mensch ist hier an den Rand gedrängt. Vor diesem Kontext wäre es eine eigene Untersuchung wert, die Genese der Bildsprache der italienischen Postmoderne mit ihren Wurzeln in der Ikonographie der erfolgreichen Möbelsysteme seit den späten 1960er Jahren nachzuvollziehen. Denn von den Isometrien bei z.B. »driade 1« (Design: Enzo Mari) und »CUB8« (Design: Angelo Mangiarotti) zu den quadratischen Rastern bei Superstudio und den Bildern des »New Domestic Landscape« (Ausstellung im Museum of Modern Art, New York City 1972) ergibt sich ein nahtloser, fließender Übergang. Bis in die jüngste Gegenwart wird der Systemgedanke im Design bearbeitet, zum Beispiel von Werner Aisslinger, der für den Möbelhersteller flötotto das System »add« mit einem Knoten entwickelt hat, der aber in der fertigen Konfiguration gerade nicht sichtbar ist. Gleichzeitig stellen wir fest, dass seit den 1970er Jahren der Systemgedanke zu einer Konstanten sowohl in der betriebswirtschaftlichen Entwicklung von Geschäftsmodellen als auch in der Digitalisierung unseres Alltags geworden ist. Innerhalb des globalen Logistiksystems bildet die Europool-Flachpalette (1966 patentiert) einen »Knoten«. Im bargeldlosen Bezahlsystem übt die Kredit- oder Scheckkarte diese Funktion aus, in der Systemgastronomie die Espressokapsel. Auch bei der Gestaltung von Waffen kann man heute von Systemdesign sprechen, denn in der Logik des Kriegs geht es darum, den tödlichen Effekt der einzelnen Komponenten durch ihren elektronisch gesteuerten Zusammenschluss (u.a. Waffe, Weste, Helm, Kamera und Kommunikation) zu einem integrativen Verbund zu steigern. Digitale Systeme beruhen nicht auf formal-ästhetischer oder maßbezüglicher Geschlossenheit. Hier bilden die Hardware-Schnittstelle und die immaterielle, programmierte API-Schnittstelle den »Knoten«, mit dem eine weit übergreifende, funktionelle Geschlossenheit erzeugt wird: Das Smartphone, das W-LAN und das Car-Sharing-System verbindet keine äußerliche Gemeinsamkeit. Ihr Zusammenhang lässt sich nicht mehr haptisch erfahren, aber als Nutzen erleben. An dieser Stelle wird offenbar, dass Systeme mehr denn je unseren Alltag bestimmen. Ihre Macht liegt in ihrer weitgehenden Unsichtbarkeit. Aktuelle Geschäftsmodelle ermöglichen die industrielle Produktion von individuellen Bestellungen. Das klingt paradox, weil Industrie ein System ist zur Erzeugung von einmal entwickelten und danach identisch hergestellten Produkten in hohen Stückzahlen. Das Einzelstück kommt darin nur als Prototyp oder Muster vor. Jetzt ist es erstmals möglich, Einzelstücke zu (mehr oder weniger) gleichen Kosten wie Serienprodukte herzustellen, wie z.B. Turnschuhe von adidas oder die »Solitäre« des Küchenherstellers bulthaup. Damit schließt sich der Kreis zurück zum autonomen Objekt als einem auf individuellen Wünschen beruhendem Produkt, das in Zukunft wachsende Bedeutung gewinnen wird. In der Diktion der Systemtheorie handelt es sich bei vielen Erzeugnissen, die heute das Phänomen Design oberflächlich verkörpern, um eine so genannte »black box«. Damit ist gemeint: Ein Gegenstand, dessen Funktionsweise von außen nicht nachvollziehbar ist. Nachvollziehbar ist nur, dass zum Beispiel das Fernsehprogramm umspringt (»Output«), sobald man auf einen Knopf der Fernbedienung drückt (»Input«), aber warum genau dies geschieht, ist nicht transparent. Aktuelle Kommunikationsprodukte wie W-LAN-Router, Computer, Tablets oder Smartphones, aber auch Geschäftsprozesse sind bewusst als »black box« konzipiert, deren unüberschaubare Funktionsvielfalt überhaupt nicht offensichtlich ist. Wir projizieren unser Vertrauen darauf, dass schon alles ordentlich funktionieren wird. Angebote, die tatsächlichen Abläufe im Inneren bzw. hinter der Benutzeroberfläche nachvollziehbar zu gestalten, werden von uns als Benutzer zurückgewiesen, weil wir damit überfordert sind, die komplexen und komplizierten Zusammenhänge in ihren Details zu verstehen, solange wir uns die notwendigen Kenntnisse nicht aus spezifischem Interesse angeeignet haben. Transparenz ist für uns also meist nicht gleichbedeutend mit »einfach« und »praktisch«, Eigenschaften, die wir aber als bequem und angenehm empfinden und deshalb wertschätzen. Das Tischfeuerzeug »TFG 1-permanent«, das Reinhold Weiss für Braun entworfen hat, gab es in drei Ausführungen: Mit einer Verkleidung der Längsflächen aus schwarzem glattem Leder, aus schwarzem genarbtem Leder und mit durchsichtigen Seitenwänden, so dass die Funktionsweise im Inneren des Metallkörpers transparent wurde. Diese Version wurde am seltensten verkauft. Ein Smartphone als flacher schwarzer Glasquader mit durchsichtiger Bedienungsfläche wäre heute schon deshalb nicht möglich, weil die für die Nutzung notwendigen Icons nicht mehr dargestellt werden könnten. Das ist insofern eine bemerkenswerte Entwicklung, weil Transparenz ein zentrales Ideal der Moderne war und gleichermaßen auf gesellschaftliche, politische und ästhetische Aufgaben bezogen wurde. Jedes System ist ein erneuter Versuch, einen abschließenden Zusammenhang zu erzeugen, der alle inbegriffenen Elemente vereint. Ein analoges System wie das eines Möbelherstellers hat einen eng begrenzten Einflussbereich, es erstreckt sich auf einen Raum, vielleicht ein Haus, in seltenen Fällen auf große Verwaltungsgebäude (üblicherweise wird allerdings die Chefetage anders ausgestattet als die Ebene der Sachbearbeiter). Digitale Systeme dehnen ihren abschließenden und einschließenden Zusammenhang erheblich weiter aus, aber auch dieser ist begrenzt: Das Apples-Programm »iTunes« fügt viele unterschiedliche Geräte und Programme zusammen, nahtlos aber eben nur solche dieses Herstellers. Wie ein pragmatischer Exkurs zur Bewältigung des alltäglichen Chaos mutet ein typischer Lösungsansatz im Design an. Man könnte ihn als Mikrokosmos bezeichnen: ein einzelnes Produkt, das auf engstem Raum in scharfer Abgrenzung und Verdichtung eine größtmögliche Anwendungsvielfalt kompakt vereint. Das Schweizer Offiziersmesser verkörpert diesen Typus, ebenso die Geschirrkugel »La Boule« (Helen von Boch und Federigo Fabbrini), die Fächerwand »Uten.Silo 1« (Dorothee Becker) und die Rollcontainer »boby« von Joe Colombo aus den 1970er Jahren und »360°« von Konstantin Grcic von 2010. Es gibt kein System ohne Brüche, und gleichzeitig konkurriert jedes System mit bestehenden Systemen. Deshalb ist jedes neue System zugleich auch ein Beitrag zur Vergrößerung des bestehenden Chaos, gleich dem sich ausdehnenden Weltall, das zwar nicht unendlich, aber grenzenlos ist. Wie nah und wie wahr diese schlichte Behauptung ist, haben Petra Hesse und ich in einer eindrücklichen Lektion erfahren, die Konstantin Grcic und Nitzan Cohen uns erteilt haben. Es ging uns Hilfesuchenden um die Frage, wie die Exponate in der Ausstellung denn wohl am sinnfälligsten zu präsentieren seien. Die Gegenfrage der beiden Designer lautete, ob das Museum über ein Ausstellungssystem verfüge. Die Antwort: »Eines? Viele!« Denn im Laufe der Jahrzehnte wurden durch die unterschiedlichen Anforderungen an die Ausstellungsarchitektur die bestehenden Vitrinen, Sockel etc. ergänzt oder neue Systeme maßgefertigt angeschafft. Das Ergebnis in den Lagerräumen erscheint deshalb für Außenstehende heute als undurchschaubares Chaos, aber Eingeweihte wissen: Dahinter verbirgt sich ein System. Diese Tatsache macht die umgesetzte Ausstellungs-Szenografie transparent, indem Vitrinen und Sockel unterschiedlicher Systeme des Museums eingesetzt und modular kombiniert werden. Unterstützend und strukturierend dient dabei ein neues Teppichsystem (Design: Werner Aisslinger; Hersteller: Vorwerk). Seine farbigen Komponenten markieren die darauf platzierten Vitrinen und kennzeichnen sie so als thematische Stationen innerhalb der Gesamtschau. Ein weiterer integraler Bestandteil der Ausstellung ist die monumentale Arbeit des Kölner Künstlers Oliver Scheibler. Er zeichnet ein monströses System, das alle Exponate auf unsinnige Weise verbindet. Damit veranschaulicht er unsere Beobachtung, dass selbst im sinnvollsten System immer auch das Chaos bereits angelegt ist.« *** »We use three distinct terms to label the all encompassing context, within which our planet Earth finds itself: cosmos, universe and outer space. Especially the short version of the latter term, namely »space«, says it all. The message cannot be condensed any further. In the Greek term »cosmos« (orderly arrangement) the sense of order resounds, which we as human beings like to believe must exist, since we assume that everything that suggests order has meaning. In contrast, the Greek term »chaos« designates disorder. (It is interesting to note that, in systems theory, chaos is used as a specialist term to denote a particularly dynamic system.) The Latin term »universum« (all things, the whole world) does not imply this biased connotation; it soberly expresses the fact of an infinite allness, an all encompassing universality. When we speak of the »world«, we can mean both: the universe or only the planet Earth. Since we cannot imagine that it is merely an insignificant crumb created by chance 4.6 billion years ago at the end of blind alley of a random solar system within one of an infinite number of galaxies, our intuition tells us that, basically, the world revolves around us, just as the furniture system revolves around the connecting nodes – regardless of how energetically our sense of reason contradicts this. A young couple from Chicago meet for a picnic on a sunny afternoon. They sit down on a blanket on the banks of Lake Michigan; the woman begins to read, while the man lies down and finally falls asleep. We see the two of them from about three feet away; we are, however, not next to, but rather over them. This image is one of the most famous in the history of design. It is the beginning of a short film by Charles and Ray Eames. The 1977 version of their nine-minute-long clip became famous under the title »Powers of Ten«. We are dealing here with the revised version of a film (financed by the electronics company International Business Machines – IBM), which the couple had already edited as a rough version as early as 1968. Their basis was a book by the Dutch educationalist Kees Boeke, who, in 1957, had visualized the dimensions of the universe in 40 steps or images. »Powers of Ten« illustrates not only the »big picture« of earthly existence, i.e. the location of man within the fabric of the universe, between the infinite vastness of outer space and quarks as elementary building blocks. The film also helps the viewer comprehend tremendous parallels. Individual shots from the camera’s journey through outer space depict a confusing state of chaos of countless points of light, which, in the next leap of scale, form a spiral galaxy, only to dissolve into an endless nothingness, since the objects are so far apart from each other. Astonishment sets in when comparable images also appear during the journey of the camera into the interior of the human body. With these parallels, it becomes apparent that a system is merely a construct that gives meaning. Whether we perceive something as a system or as chaos is a question of our standpoint and our perspective. This discovery is confirmed each time we gaze into the starlit night skies. Here, we see only an overwhelming state of chaos (to which, with the help of the various constellations, we can give a structure that lends order and meaning). At the same time, we know that the Earth has a relationship to other celestial bodies, and that this network is called the solar system – even though we cannot perceive the composite structure with our bare eyes because of our position and our insufficient vision. The exhibition »SYSTEM DESIGN. More than 100 Years of Chaos in Everyday Life« investigates the relationship between the systems concept and design. Both terms, system and design, are as commonplace as they are fuzzy, and thus misleading. With the term »system«, we do not mean systematic in the most general sense of the term. The use of the term system refers here to its core meaning: It describes a specific interconnection: This interconnection leads to a better result; it offers more than that which the sum of the non-connected elements could offer on their own, if it were indeed possible to perform this addition. Furthermore, when we refer here to »design«, we do not mean designing in the most general sense of the term. There is no doubt that Stone Age cave paintings and medieval letterpress printing are not examples of design, for otherwise the term would lose all its distinguishing discriminatory power. On the other hand, we are also not referring here merely to that kind of »design«, which merely offers interesting surfaces and dazzling colours. Here, the term design is used as a relatively clearly operationalized, neutral term for the modern phenomenon of »designing« in the division-of-labour-based operations of industrialized societies for commercially orientated serial production. It refers to objects, as well as to messages and processes, and lays claim to a substantial differentiation from architecture, handcraft and art – although it is undisputed that the boundaries to these creative fields are fluid (and, in individual cases, the categorical assignment may not be particularly relevant). This transition is demonstrated by a pair of balls for the southern French game called »pétanque«. Until the 1930s, pétanque balls were produced exclusively by hand. Generally speaking, these »boule cloutée« were turned using boxwood and studded with up to 1,200 nails. The flat heads of the metal nails overlap each other so that the underlying wood is completely protected. In 1904, Félix Rofritsch was the first entrepreneur to establish a manufactory (in Marseille) for the manual serial production of these nail-studded wooden balls. In 1923, Vincent Mille and Paul Courtieu began producing »pétanque« balls mechanically in Lyon. The patented process for the industrial production of hollow, forged steel balls, which are welded together from two halves – as this is basically still done today – was invented by Jean Blanc and Louis Tarchier in 1928. Understood in this way, systems already existed, of course, even before industrialization – but not Modern Design. The human longing for order, and making this available by providing an overview, is presented in this exhibition in an exemplary way through the inclusion of a finely handcrafted cabinet cupboard from the mid 17th century, which appears to have been used for a collection of minerals. Goethe’s »Theory of Colours« is an attempt to create a plausible context for the diversity of phenomena, i.e. to unite that which already exists within one contained system. In the late 19th century, the German physiologist Ewald Hering picked up in Goethe’s theories and developed the foundations for the colour system, which the Swedish researcher Anders Hård presented in 1969 as the »Natural Colour System« (NCS). The central exhibition hall for the »Great Exhibition« in London in 1851, which is considered today to have been the first World Expo, marks a salient point in the history of Modern Design. The »Crystal Palace« was basically a monumental greenhouse, the construction of which was based on the stringing together of square modules with a side length of 24 feet each. The entire building, with a total floor area of 990,000 square feet, was erected within only a few months in Hyde Park in London using standardized, industrially prefabricated elements, namely plates of glass within a cast-iron construction. With the »Great Exhibition«, the advantages and disadvantages of industrial serial production became more than clear. The public was presented with approximately 100,000 objects – from small household items to seemingly monstrous machines. The visitors were shocked and overwhelmed by an unprecedented flood of autonomous objects. They were appalled that all these objects, which were produced unrelentingly in factories, did not fit together at all in terms of their design. It suddenly became obvious to everyone that there was no aesthetic connection in the sense of a style, which would give order to the man-made environment (100 years later, the proverbial demand was: from the teaspoon to the entire city), but rather merely the chaos of the commercially and taste-driven world of consumption. Initially, in the field of design, more often than not tasks were processed, within which the individual product was the primary focus, independent of its respective context. One prime example of this is the so-called »contour bottle«, which Alexander Samuelson designed for Coca-Cola in 1915. It is a self-sufficient object, an autonomous object, without any reference whatsoever to its context. The legendary briefing for the design consisted of the wish that the bottle should remain recognizable even when it is broken to pieces. It was not part of the briefing that the bottle should integrate itself as intelligently as possible into its surroundings, but rather, quite the opposite, that it would continue to assert itself even when it was destroyed. A further example in the exhibition for the design of autonomous objects is the prototype of an espresso machine »concorso« by Bruno Munari and Enzo Mari – an extraordinar
Publikation # [413]
»Den alles umspannenden Zusammenhang, in dem sich unser Planet Erde befindet, benennen wir mit drei Begriffen: Kosmos, Universum und Weltall. Speziell mit dem kurzen Ausdruck All ist alles gesagt. Die Aussage lässt sich nicht weiter verdichten. Im griechischen Begriff »Kosmos« klingt die Ordnung an, von der wir Menschen glauben wollen, dass es sie geben muss, weil wir allem einen Sinn unterstellen, wo wir eine Ordnung erkennen. Im Unterschied dazu bezeichnet der griechische Begriff »Chaos« die Unordnung. (Interessanterweise wird »Chaos« in der Systemtheorie als Fachbegriff für ein besonders dynamisches System verwendet.) Der lateinische Begriff »Universum« enthält diese wertende Konnotation nicht, er drückt nüchtern die Tatsache der unendlichen Allheit aus, des umfassenden Allseins. Wenn wir von der Welt sprechen, dann können wir beides meinen: Das All oder auch nur die Erde. Weil wir uns nicht vorstellen können, dass sie nur ein unbedeutender, zufällig vor 4,6 Mrd. Jahren entstandener Krümel ist am Ende der Sackgasse eines beliebigen Sonnensystems innerhalb einer von unendlich vielen Galaxien, sagt uns unser Gefühl, dass sich die Welt im Grunde um uns dreht wie das Möbelsystem um den Verbindungsknoten – ganz egal, wie energisch unser Verstand auch widerspricht. Ein junges Paar aus Chicago ist zum Picknick verabredet. An einem sonnigen Nachmittag lassen sie sich auf ihrer Decke am Ufer des Lake Michigan nieder. Die Frau beginnt damit, zu lesen, während sich der Mann ausstreckt und einschläft. Wir sehen die beiden aus einem Meter Entfernung, allerdings befinden wir uns nicht neben, sondern über ihnen. Dieses Bild zählt zu den berühmtesten der Designgeschichte, es ist der Beginn eines Kurzfilms von Ray und Charles Eames. Ihr neun Minuten langes Werk ist in der Fassung von 1977 unter dem Titel »Powers of Ten« bekannt geworden. Dabei handelt es sich um die überarbeitete und vom Elektronikkonzern International Business Machines (IBM) finanzierte Version eines Films, den die Eheleute schon 1968 als Grobfassung bearbeitet hatten. Ihre Grundlage war ein Buch des holländischen Pädagogen Kees Boeke, der 1957 die Dimensionen des Universums in 40 Schritten bzw. Bildern visualisierte. »Powers of Ten« veranschaulicht nicht nur das Big Picture der irdischen Existenz, die Verortung des Menschen im Gefüge des Kosmos zwischen den grenzenlosen Weiten des Weltalls und den Quarks als elementaren Bausteinen. Der Film macht auch ungeheure Parallelen nachvollziehbar. Denn einzelne Einstellungen bei der Kamerafahrt durch den Outer Space zeigen ein unübersichtliches Chaos von einzelnen leuchtenden Punkten, die sich im nächsten Maßstabsprung zu einer spiralförmigen Galaxie formen und dann wieder zu einem unendlichen Nichts auflösen, weil die Objekte so weit voneinander entfernt sind. Und Verblüffung stellt sich ein, wenn vergleichbare Bilder auch bei der Kamerafahrt ins Innere des Menschen erscheinen. An diesen Parallelen wird erkennbar: Ein System ist eine Bedeutung gebende Konstruktion. Ob wir etwas als System oder als Chaos wahrnehmen, ist eine Frage unseres Standpunkts und unserer Perspektive. Diese Erkenntnis wird mit jedem Blick in den nächtlichen Sternenhimmel bestätigt. Dort sehen wir nur ein überwältigendes Chaos (dem wir mit der Hilfe von Sternbildern eine Ordnung und Bedeutung gebende Struktur zuweisen). Gleichzeitig wissen wir, dass sich die Erde in Beziehung zu anderen Himmelskörpern befindet, und diesen Verbund nennen wir Sonnensystem – auch wenn wir die zusammengefügte Struktur wegen unserer Position und unserer mangelnden Sehkraft nicht mit bloßem Auge wahrnehmen. In der Ausstellung »SYSTEM DESIGN. Über 100 Jahre Chaos im Alltag« wird die Beziehung zwischen dem Systemgedanken und dem Design untersucht. Beide Begriffe, System und Design, sind gleichermaßen alltäglich wie auch unscharf und deshalb missverständlich. Mit System ist hier nicht das Planvolle im allgemeinsten Sinn gemeint. Der Begriff System wird vielmehr auf seinen Bedeutungskern konzentriert. Er bezeichnet einen spezifischen Verbund: Dieser Verbund bewirkt ein besseres Ergebnis, er leistet mehr als die Summe der unverbundenen Elemente leisten könnte, wenn es möglich wäre, eine solche Addition durchzuführen. Mit Design wiederum ist nicht Gestaltung im allgemeinsten Sinn gemeint. Steinzeitliche Höhlenmalerei und mittelalterlicher Buchdruck sind zweifellos kein Design, es sei denn, der Begriff verlöre jede kennzeichnende Trennschärfe. Design ist aber zweifellos auch nicht nur der Typus von Gestaltung, der lediglich Oberflächen verbeult und grell lackiert. Design dient hier als relativ klar operationalisierbarer, wertneutraler Begriff für das moderne Phänomen der Gestaltung in den arbeitsteiligen Abläufen der industrialisierten Gesellschaften für eine kommerziell ausgerichtete Serienproduktion. Er bezieht sich sowohl auf Gegenstände als auch auf Botschaften und Prozesse und erhebt Anspruch auf substantielle Abgrenzung zur Architektur, zum Handwerk und zur Kunst – auch wenn unbestritten ist, dass die Grenzen zu diesen gestalterischen Feldern fließend sind (und die kategoriale Zuweisung im Einzelfall nicht sonderlich relevant sein mag). Diesen Übergang veranschaulicht ein Paar Kugeln für das südfranzösische Spiel »Pétanque«. Bis in die 1930er Jahre wurden Pétanque-Kugeln ausschließlich in Handarbeit hergestellt. Die »Boule cloutée« wurde meist aus dem Holz des Buchsbaums gedrechselt und mit bis zu 1.200 Nägeln beschlagen. Die flachen Köpfe der Metallnägel überdecken sich gegenseitig, so dass das darunter liegende Holz vollständig geschützt ist. Félix Rofritsch gilt als erster Unternehmer, der 1904 in Marseille eine Manufaktur für die handwerkliche Serienfertigung der genagelten Holzkugeln etablierte. 1923 begann die maschinelle Fertigung von Pétanque-Kugeln in Lyon durch Vincent Mille und Paul Courtieu. Das patentierte Verfahren zur industriellen Produktion von hohlen, geschmiedeten Stahlkugeln, die aus zwei Hälften zusammengeschweißt werden – wie es im Wesentlichen bis heute praktiziert wird –, wurde 1928 von Jean Blanc und Louis Tarchier erfunden. So verstanden, gibt es vor der Industrialisierung selbstverständlich Systeme, aber kein modernes Design. Die anthropologische Sehnsucht danach, Ordnung zu schaffen und durch Übersicht verfügbar zu machen, wird in dieser Ausstellung exemplarisch präsentiert durch das Einzelstück eines kunsthandwerklich hochwertig gefertigten Kabinettschranks aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, der für eine Sammlung von Mineralien gedient haben mag. Goethes Farbenlehre ist ein Versuch, die Vielfalt der Erscheinungen in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen, also das Vorhandene durch Deutung zu einem geschlossenen System zusammenzufügen. Im späten 19. Jahrhundert knüpft der deutsche Physiologe Ewald Hering an Goethes Theorien an und entwickelt die Grundlagen für das Farbsystem, das der Schwede Anders Hård 1969 als Natural Color System (NCS) vorstellte. Der zentrale Ausstellungsbau für die »Great Exhibition« in London 1851, die wir heute als erste Weltausstellung bezeichnen, markiert einen herausragenden Punkt in der modernen Designgeschichte. Der »Crystal Palace« war im Wesentlichen ein riesiges Gewächshaus, das aus der Aneinanderreihung von quadratischen Modulen mit 24 Fuß Seitenlänge (ca. 7,3 m) hervorging. Das gesamte Gebäude mit einer Grundfläche von 615 x 150 Metern wurde aus standardisierten, industriell vorgefertigen Elementen (Glasflächen auf einer Gusseisen-Konstruktion) innerhalb weniger Monate im Londoner Hyde Park errichtet. Mit der »Great Exhibition« wurde offensichtlich, worin gleichermaßen Fluch und Segen der industriellen Serienfertigung bestehen. Dem Publikum wurden etwa 100.000 Gegenstände gezeigt, von kleinen Haushaltsgegenständen bis zu monströs anmutenden Maschinen. Der Schock für die Besucher bestand darin, von einer nie dagewesenen Flut autonomer Dinge überwältigt zu werden. Sie waren darüber entsetzt, dass all diese Gegenstände, die in den Fabriken unablässig produziert wurden, gestalterisch überhaupt nicht zueinander passten. Plötzlich war für jedermann offenbar, dass es keine ästhetische Zusammengehörigkeit im Sinne eines Stils gab, welche die vom Menschen geschaffene Umgebung ordnete (100 Jahre später lautete der sprichwörtliche Anspruch: vom Kaffeelöffel bis zu Stadt), sondern lediglich ein Chaos der kommerziell und geschmäcklerisch angetriebenen Warenwelt. Im Design wurden anfangs vorwiegend Aufgaben bearbeitet, bei denen das einzelne Produkt im Mittelpunkt stand, losgelöst von seinem jeweiligen Zusammenhang. Ein beispielhafter Entwurf ist etwa die so genannte Konturflasche, die Alexander Samuelson 1915 für Coca-Cola entworfen hat. Es ist ein Gegenstand, der sich selbst genügt, ein autonomes Objekt, ohne Bezug zu seinem Kontext. Das legendäre Briefing für das Design lautete, die Flasche solle selbst dann wiedererkennbar sein, wenn sie in Splittern zerbrochen sei. Das Briefing lautete nicht, die Flasche möge sich so klug wie möglich in ihr Umfeld einfügen, sondern sich ganz im Gegenteil auch dann noch dagegen behaupten, wenn sie zerstört ist. Ein weiteres Exponat in der Ausstellung für das Design autonomer Objekte ist der Prototyp einer Espressomaschine von Bruno Munari und Enzo Mari, ein außergewöhnliches Objekt, dessen Erscheinen auf der Theke einer italienischen Kaffeebar der späten 1950er so fremd gewirkt haben muss wie ein Ufo, zugleich schroff abweisend und farbenprächtig schillernd anziehend. Dieser »Diamante« wollte nichts als ausstrahlen. Ganz gewiss sollte er sich nicht integrieren. Das Potenzial zur Effizienz-Optimierung, das der industriellen Serienfertigung zu eigen ist, wurde im Design schon früh genutzt. Wenn ein Stuhl einmal entworfen ist, liegt der Gedanke nah, ihn nicht nur in einer einzigen, sondern gleich in drei oder vier Größen zu produzieren. Aus einem autonomen Objekt wird dadurch eine Reihe. Marcel Breuers Beistelltische aus Stahlrohr, von Thonet gefertigt, verkörpern diesen Designtypus exemplarisch. Auch die früheren Arbeiten von Peter Behrens für die AEG sind von diesem Seriengedanken geprägt: Seine Titelbilder der monatlich erschienenen »Mitteilungen der Berliner Elektricitäts-Werke« beruhen auf einem einmal entwickelten grafischen Ornament, das durch farbliche Permutation so variiert wird, dass eine Reihe entsteht. Wenn die Skalierung nicht bloß linear in einer Richtung erfolgt, sondern wenn auch in der zweiten Flächen- und in der dritten Körperdimension maßbezügliche Abhängigkeiten und Abstimmungen erzeugt werden, entsteht ein Programm. Idealtypisch repräsentiert dies Wilhelm Wagenfelds Kubus-Glasgeschirr. Aber auch der Rahmen, innerhalb dessen überhaupt gestaltet wird, ist als Maßordnung angelegt: Zu den gebräuchlichsten Ordnungen zählt die DIN 476, in der die vereinheitlichten Papierformate festgelegt sind. Komplexer wird es, wenn der programmatische Anspruch durch formal-ästhetische Bezugnahme verwirklicht wird. Hierzu zählen Josef Hoffmanns »Gitterwerk«-Entwürfe, bei denen er das Quadrat als nüchterne gestalterische Grundeinheit, als vereinheitlichendes Ornament nutzt. Ähnlich zu verstehen sind ebenso die Möbel-Programme Ferdinand Kramers oder Marcel Breuers. Darüber hinaus gelang es im Produktdesign dem Elektrogerätehersteller Braun AG, mit den Entwürfen u.a. von Hans Gugelot als externem Designer und Reinhold Weiss als betriebsinternem Designer ikonische Produkte auf den Markt zu bringen, deren programmatischer Anspruch sich, als Ausdruck eines durch und durch freiheitlichen, vernünftigen und sachlichen Menschenbildes, auf die Formung einer neuen Gesellschaft erstreckte. Das Programm, das uns von Kindesbeinen an vertraut ist, sind Bauklötze. Stapeln wir acht Stück aufeinander, so beginnt der Turm zu wackeln. Bei 12 stürzt alles ein. Ein analoges System entsteht, wenn ein solches Programm nicht nur modular aufgebaut ist, sondern gleichzeitig die Module miteinander verbunden werden können. Das setzt voraus, dass erstens seine Bestandteile auf wenige Grundelemente vereinfacht werden und zweitens ein Verbindungselement eingeführt wird. Der kleine Noppen, der seit 1958 auf der Oberseite der Lego-Steine angebracht ist, markiert diesen Übergang des Holzbaukastens vom Programm zum System. Damit sind auf einen Schlag exponentiell vielfache, individuelle Anwendungen möglich. Die Verbindung etabliert das System. Der sichtbare Knoten von USM-Haller (1963) zählt zu den bekanntesten Beispielen im Möbeldesign. Die ersten Ansätze für Systemdesign finden sich aber schon früher: Ab 1907 gestaltete Peter Behrens für die Berliner AEG sämtliche Erzeugnisse von der Briefmarke bis zur Fabrik und begründete damit das erste Corporate Design eines Unternehmens. Für die Fotokamera »Leica 1a« entwickelte Oskar Barnack 1925 erstmals eine systemetablierende Trennung von Gehäuse und Objektiv. Ende der 1920er Jahre beginnen Gerd Arntz und Otto Neurath in Wien mit der Arbeit an ihrem System mit dem Akronym »ISOTYPE« zur bildgestützten Aufklärung der breiten Bevölkerung über komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge, das auf wenigen standardisierten grafischen Elementen beruht: Eine Bildsprache, die zu den heute gebräuchlichen Icons geführt hat. Mit dem Aufstieg des modernen Designs in den westlichen Industriegesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbreitet sich zugleich auch der Systemgedanke im Design. Parallel gewinnen intellektuelle Ansätze wie die Kybernetik und die Systemtheorie an Anziehungskraft – auch im Design. Insbesondere die HfG Ulm entwickelt sich nach der Trennung von Max Bill ab 1957 zum international führenden Zentrum für die Bündelung, Verarbeitung und Ausstrahlung dieser Impulse. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht die gestalterische Bewältigung der beiden Ziele, erstens durch Integration eine allgemeingültige Bedeutung zu stiften, und zweitens durch Rationalisierung aus der Kombination weniger Elemente eine effiziente und günstige Massenproduktion für Alltagsgerätschaften und -botschaften zu ermöglichen. Der Anstrich des Objektiven, zwangsläufig Richtigen, den die Sprache der neuen Wissenschaftler transportierte, war darüber hinaus von besonderer Anziehungskraft für diese private Hochschule, weil sie unter permanentem Legitimationsdruck stand. In der Folge, nach der Schließung der HfG Ulm 1968, resultierte allzu oft aus dem nicht mehr hinterfragten Anspruch auf Zwangsläufigkeit eine Arroganz der Zwanghaftigkeit: Möbelsysteme der 1970er Jahre verkörpern bisweilen eine monströse Banalität als Folge bürokratischer und technischer Sachzwänge in Kombination mit ökonomischer Optimierung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Fehlentwicklung ist das Konzept »action office« des amerikanischen Designers George Nelson. Die erste Version von 1964 besteht noch aus Einzelelementen (Tische, Regale, Stehhocker), die den humanen Geist von Mobilität, Flexibilität und individueller Anpassung atmen. Doch die Folgeversionen, von denen sich Nelson distanzierte, mutierten zu uniformen Büro-Arbeitsplatzkästen, den berüchtigten so genannten »cubicles«, die das Heer der Angestellten im Großraumbüro in Reih und Glied zwingen. Die Zwiespältigkeit der modernen Zukunftsvorstellungen, wie sie durch Stanley Kubricks Film »2001 – A Space Odyssee« für das kollektive Bewusstsein geformt wurden, sind exemplarisch in dem Foto vorweg genommen, das ein Büro mit Großrechnern von IBM zeigt: Der Mensch ist hier an den Rand gedrängt. Vor diesem Kontext wäre es eine eigene Untersuchung wert, die Genese der Bildsprache der italienischen Postmoderne mit ihren Wurzeln in der Ikonographie der erfolgreichen Möbelsysteme seit den späten 1960er Jahren nachzuvollziehen. Denn von den Isometrien bei z.B. »driade 1« (Design: Enzo Mari) und »CUB8« (Design: Angelo Mangiarotti) zu den quadratischen Rastern bei Superstudio und den Bildern des »New Domestic Landscape« (Ausstellung im Museum of Modern Art, New York City 1972) ergibt sich ein nahtloser, fließender Übergang. Bis in die jüngste Gegenwart wird der Systemgedanke im Design bearbeitet, zum Beispiel von Werner Aisslinger, der für den Möbelhersteller flötotto das System »add« mit einem Knoten entwickelt hat, der aber in der fertigen Konfiguration gerade nicht sichtbar ist. Gleichzeitig stellen wir fest, dass seit den 1970er Jahren der Systemgedanke zu einer Konstanten sowohl in der betriebswirtschaftlichen Entwicklung von Geschäftsmodellen als auch in der Digitalisierung unseres Alltags geworden ist. Innerhalb des globalen Logistiksystems bildet die Europool-Flachpalette (1966 patentiert) einen »Knoten«. Im bargeldlosen Bezahlsystem übt die Kredit- oder Scheckkarte diese Funktion aus, in der Systemgastronomie die Espressokapsel. Auch bei der Gestaltung von Waffen kann man heute von Systemdesign sprechen, denn in der Logik des Kriegs geht es darum, den tödlichen Effekt der einzelnen Komponenten durch ihren elektronisch gesteuerten Zusammenschluss (u.a. Waffe, Weste, Helm, Kamera und Kommunikation) zu einem integrativen Verbund zu steigern. Digitale Systeme beruhen nicht auf formal-ästhetischer oder maßbezüglicher Geschlossenheit. Hier bilden die Hardware-Schnittstelle und die immaterielle, programmierte API-Schnittstelle den »Knoten«, mit dem eine weit übergreifende, funktionelle Geschlossenheit erzeugt wird: Das Smartphone, das W-LAN und das Car-Sharing-System verbindet keine äußerliche Gemeinsamkeit. Ihr Zusammenhang lässt sich nicht mehr haptisch erfahren, aber als Nutzen erleben. An dieser Stelle wird offenbar, dass Systeme mehr denn je unseren Alltag bestimmen. Ihre Macht liegt in ihrer weitgehenden Unsichtbarkeit. Aktuelle Geschäftsmodelle ermöglichen die industrielle Produktion von individuellen Bestellungen. Das klingt paradox, weil Industrie ein System ist zur Erzeugung von einmal entwickelten und danach identisch hergestellten Produkten in hohen Stückzahlen. Das Einzelstück kommt darin nur als Prototyp oder Muster vor. Jetzt ist es erstmals möglich, Einzelstücke zu (mehr oder weniger) gleichen Kosten wie Serienprodukte herzustellen, wie z.B. Turnschuhe von adidas oder die »Solitäre« des Küchenherstellers bulthaup. Damit schließt sich der Kreis zurück zum autonomen Objekt als einem auf individuellen Wünschen beruhendem Produkt, das in Zukunft wachsende Bedeutung gewinnen wird. In der Diktion der Systemtheorie handelt es sich bei vielen Erzeugnissen, die heute das Phänomen Design oberflächlich verkörpern, um eine so genannte »black box«. Damit ist gemeint: Ein Gegenstand, dessen Funktionsweise von außen nicht nachvollziehbar ist. Nachvollziehbar ist nur, dass zum Beispiel das Fernsehprogramm umspringt (»Output«), sobald man auf einen Knopf der Fernbedienung drückt (»Input«), aber warum genau dies geschieht, ist nicht transparent. Aktuelle Kommunikationsprodukte wie W-LAN-Router, Computer, Tablets oder Smartphones, aber auch Geschäftsprozesse sind bewusst als »black box« konzipiert, deren unüberschaubare Funktionsvielfalt überhaupt nicht offensichtlich ist. Wir projizieren unser Vertrauen darauf, dass schon alles ordentlich funktionieren wird. Angebote, die tatsächlichen Abläufe im Inneren bzw. hinter der Benutzeroberfläche nachvollziehbar zu gestalten, werden von uns als Benutzer zurückgewiesen, weil wir damit überfordert sind, die komplexen und komplizierten Zusammenhänge in ihren Details zu verstehen, solange wir uns die notwendigen Kenntnisse nicht aus spezifischem Interesse angeeignet haben. Transparenz ist für uns also meist nicht gleichbedeutend mit »einfach« und »praktisch«, Eigenschaften, die wir aber als bequem und angenehm empfinden und deshalb wertschätzen. Das Tischfeuerzeug »TFG 1-permanent«, das Reinhold Weiss für Braun entworfen hat, gab es in drei Ausführungen: Mit einer Verkleidung der Längsflächen aus schwarzem glattem Leder, aus schwarzem genarbtem Leder und mit durchsichtigen Seitenwänden, so dass die Funktionsweise im Inneren des Metallkörpers transparent wurde. Diese Version wurde am seltensten verkauft. Ein Smartphone als flacher schwarzer Glasquader mit durchsichtiger Bedienungsfläche wäre heute schon deshalb nicht möglich, weil die für die Nutzung notwendigen Icons nicht mehr dargestellt werden könnten. Das ist insofern eine bemerkenswerte Entwicklung, weil Transparenz ein zentrales Ideal der Moderne war und gleichermaßen auf gesellschaftliche, politische und ästhetische Aufgaben bezogen wurde. Jedes System ist ein erneuter Versuch, einen abschließenden Zusammenhang zu erzeugen, der alle inbegriffenen Elemente vereint. Ein analoges System wie das eines Möbelherstellers hat einen eng begrenzten Einflussbereich, es erstreckt sich auf einen Raum, vielleicht ein Haus, in seltenen Fällen auf große Verwaltungsgebäude (üblicherweise wird allerdings die Chefetage anders ausgestattet als die Ebene der Sachbearbeiter). Digitale Systeme dehnen ihren abschließenden und einschließenden Zusammenhang erheblich weiter aus, aber auch dieser ist begrenzt: Das Apples-Programm »iTunes« fügt viele unterschiedliche Geräte und Programme zusammen, nahtlos aber eben nur solche dieses Herstellers. Wie ein pragmatischer Exkurs zur Bewältigung des alltäglichen Chaos mutet ein typischer Lösungsansatz im Design an. Man könnte ihn als Mikrokosmos bezeichnen: ein einzelnes Produkt, das auf engstem Raum in scharfer Abgrenzung und Verdichtung eine größtmögliche Anwendungsvielfalt kompakt vereint. Das Schweizer Offiziersmesser verkörpert diesen Typus, ebenso die Geschirrkugel »La Boule« (Helen von Boch und Federigo Fabbrini), die Fächerwand »Uten.Silo 1« (Dorothee Becker) und die Rollcontainer »boby« von Joe Colombo aus den 1970er Jahren und »360°« von Konstantin Grcic von 2010. Es gibt kein System ohne Brüche, und gleichzeitig konkurriert jedes System mit bestehenden Systemen. Deshalb ist jedes neue System zugleich auch ein Beitrag zur Vergrößerung des bestehenden Chaos, gleich dem sich ausdehnenden Weltall, das zwar nicht unendlich, aber grenzenlos ist. Wie nah und wie wahr diese schlichte Behauptung ist, haben Petra Hesse und ich in einer eindrücklichen Lektion erfahren, die Konstantin Grcic und Nitzan Cohen uns erteilt haben. Es ging uns Hilfesuchenden um die Frage, wie die Exponate in der Ausstellung denn wohl am sinnfälligsten zu präsentieren seien. Die Gegenfrage der beiden Designer lautete, ob das Museum über ein Ausstellungssystem verfüge. Die Antwort: »Eines? Viele!« Denn im Laufe der Jahrzehnte wurden durch die unterschiedlichen Anforderungen an die Ausstellungsarchitektur die bestehenden Vitrinen, Sockel etc. ergänzt oder neue Systeme maßgefertigt angeschafft. Das Ergebnis in den Lagerräumen erscheint deshalb für Außenstehende heute als undurchschaubares Chaos, aber Eingeweihte wissen: Dahinter verbirgt sich ein System. Diese Tatsache macht die umgesetzte Ausstellungs-Szenografie transparent, indem Vitrinen und Sockel unterschiedlicher Systeme des Museums eingesetzt und modular kombiniert werden. Unterstützend und strukturierend dient dabei ein neues Teppichsystem (Design: Werner Aisslinger; Hersteller: Vorwerk). Seine farbigen Komponenten markieren die darauf platzierten Vitrinen und kennzeichnen sie so als thematische Stationen innerhalb der Gesamtschau. Ein weiterer integraler Bestandteil der Ausstellung ist die monumentale Arbeit des Kölner Künstlers Oliver Scheibler. Er zeichnet ein monströses System, das alle Exponate auf unsinnige Weise verbindet. Damit veranschaulicht er unsere Beobachtung, dass selbst im sinnvollsten System immer auch das Chaos bereits angelegt ist.« *** »We use three distinct terms to label the all encompassing context, within which our planet Earth finds itself: cosmos, universe and outer space. Especially the short version of the latter term, namely »space«, says it all. The message cannot be condensed any further. In the Greek term »cosmos« (orderly arrangement) the sense of order resounds, which we as human beings like to believe must exist, since we assume that everything that suggests order has meaning. In contrast, the Greek term »chaos« designates disorder. (It is interesting to note that, in systems theory, chaos is used as a specialist term to denote a particularly dynamic system.) The Latin term »universum« (all things, the whole world) does not imply this biased connotation; it soberly expresses the fact of an infinite allness, an all encompassing universality. When we speak of the »world«, we can mean both: the universe or only the planet Earth. Since we cannot imagine that it is merely an insignificant crumb created by chance 4.6 billion years ago at the end of blind alley of a random solar system within one of an infinite number of galaxies, our intuition tells us that, basically, the world revolves around us, just as the furniture system revolves around the connecting nodes – regardless of how energetically our sense of reason contradicts this. A young couple from Chicago meet for a picnic on a sunny afternoon. They sit down on a blanket on the banks of Lake Michigan; the woman begins to read, while the man lies down and finally falls asleep. We see the two of them from about three feet away; we are, however, not next to, but rather over them. This image is one of the most famous in the history of design. It is the beginning of a short film by Charles and Ray Eames. The 1977 version of their nine-minute-long clip became famous under the title »Powers of Ten«. We are dealing here with the revised version of a film (financed by the electronics company International Business Machines – IBM), which the couple had already edited as a rough version as early as 1968. Their basis was a book by the Dutch educationalist Kees Boeke, who, in 1957, had visualized the dimensions of the universe in 40 steps or images. »Powers of Ten« illustrates not only the »big picture« of earthly existence, i.e. the location of man within the fabric of the universe, between the infinite vastness of outer space and quarks as elementary building blocks. The film also helps the viewer comprehend tremendous parallels. Individual shots from the camera’s journey through outer space depict a confusing state of chaos of countless points of light, which, in the next leap of scale, form a spiral galaxy, only to dissolve into an endless nothingness, since the objects are so far apart from each other. Astonishment sets in when comparable images also appear during the journey of the camera into the interior of the human body. With these parallels, it becomes apparent that a system is merely a construct that gives meaning. Whether we perceive something as a system or as chaos is a question of our standpoint and our perspective. This discovery is confirmed each time we gaze into the starlit night skies. Here, we see only an overwhelming state of chaos (to which, with the help of the various constellations, we can give a structure that lends order and meaning). At the same time, we know that the Earth has a relationship to other celestial bodies, and that this network is called the solar system – even though we cannot perceive the composite structure with our bare eyes because of our position and our insufficient vision. The exhibition »SYSTEM DESIGN. More than 100 Years of Chaos in Everyday Life« investigates the relationship between the systems concept and design. Both terms, system and design, are as commonplace as they are fuzzy, and thus misleading. With the term »system«, we do not mean systematic in the most general sense of the term. The use of the term system refers here to its core meaning: It describes a specific interconnection: This interconnection leads to a better result; it offers more than that which the sum of the non-connected elements could offer on their own, if it were indeed possible to perform this addition. Furthermore, when we refer here to »design«, we do not mean designing in the most general sense of the term. There is no doubt that Stone Age cave paintings and medieval letterpress printing are not examples of design, for otherwise the term would lose all its distinguishing discriminatory power. On the other hand, we are also not referring here merely to that kind of »design«, which merely offers interesting surfaces and dazzling colours. Here, the term design is used as a relatively clearly operationalized, neutral term for the modern phenomenon of »designing« in the division-of-labour-based operations of industrialized societies for commercially orientated serial production. It refers to objects, as well as to messages and processes, and lays claim to a substantial differentiation from architecture, handcraft and art – although it is undisputed that the boundaries to these creative fields are fluid (and, in individual cases, the categorical assignment may not be particularly relevant). This transition is demonstrated by a pair of balls for the southern French game called »pétanque«. Until the 1930s, pétanque balls were produced exclusively by hand. Generally speaking, these »boule cloutée« were turned using boxwood and studded with up to 1,200 nails. The flat heads of the metal nails overlap each other so that the underlying wood is completely protected. In 1904, Félix Rofritsch was the first entrepreneur to establish a manufactory (in Marseille) for the manual serial production of these nail-studded wooden balls. In 1923, Vincent Mille and Paul Courtieu began producing »pétanque« balls mechanically in Lyon. The patented process for the industrial production of hollow, forged steel balls, which are welded together from two halves – as this is basically still done today – was invented by Jean Blanc and Louis Tarchier in 1928. Understood in this way, systems already existed, of course, even before industrialization – but not Modern Design. The human longing for order, and making this available by providing an overview, is presented in this exhibition in an exemplary way through the inclusion of a finely handcrafted cabinet cupboard from the mid 17th century, which appears to have been used for a collection of minerals. Goethe’s »Theory of Colours« is an attempt to create a plausible context for the diversity of phenomena, i.e. to unite that which already exists within one contained system. In the late 19th century, the German physiologist Ewald Hering picked up in Goethe’s theories and developed the foundations for the colour system, which the Swedish researcher Anders Hård presented in 1969 as the »Natural Colour System« (NCS). The central exhibition hall for the »Great Exhibition« in London in 1851, which is considered today to have been the first World Expo, marks a salient point in the history of Modern Design. The »Crystal Palace« was basically a monumental greenhouse, the construction of which was based on the stringing together of square modules with a side length of 24 feet each. The entire building, with a total floor area of 990,000 square feet, was erected within only a few months in Hyde Park in London using standardized, industrially prefabricated elements, namely plates of glass within a cast-iron construction. With the »Great Exhibition«, the advantages and disadvantages of industrial serial production became more than clear. The public was presented with approximately 100,000 objects – from small household items to seemingly monstrous machines. The visitors were shocked and overwhelmed by an unprecedented flood of autonomous objects. They were appalled that all these objects, which were produced unrelentingly in factories, did not fit together at all in terms of their design. It suddenly became obvious to everyone that there was no aesthetic connection in the sense of a style, which would give order to the man-made environment (100 years later, the proverbial demand was: from the teaspoon to the entire city), but rather merely the chaos of the commercially and taste-driven world of consumption. Initially, in the field of design, more often than not tasks were processed, within which the individual product was the primary focus, independent of its respective context. One prime example of this is the so-called »contour bottle«, which Alexander Samuelson designed for Coca-Cola in 1915. It is a self-sufficient object, an autonomous object, without any reference whatsoever to its context. The legendary briefing for the design consisted of the wish that the bottle should remain recognizable even when it is broken to pieces. It was not part of the briefing that the bottle should integrate itself as intelligently as possible into its surroundings, but rather, quite the opposite, that it would continue to assert itself even when it was destroyed. A further example in the exhibition for the design of autonomous objects is the prototype of an espresso machine »concorso« by Bruno Munari and Enzo Mari – an extraordinar