Willkommen in der Digitale, oder: Das Ende des Designs (wie wir es kennen)
26. Oktober 2017
Abbildung: Herbert Bayer/dorland-studios Berlin, Entwurf für »die neue linie« (1929)
Vortrag zur Verleihung des 10. Kölner Designpreis im Museum für Angewandte Kunst Köln MAKK, 26.10.2017
***
1. Guten Abend! Herzlichen Dank für die freundliche Einführung. Und vielen Dank dafür, dass Sie alle mir die Gelegenheit bieten, ein paar Gedanken mit Ihnen auszutauschen.
Ich möchte mich heute anlässlich der Vergabe des zehnten Kölner Design-Preises explizit an die Absolventinnen und Absolventen der Designhochschulen richten. Denn Sie stehen im Mittelpunkt dieses Preises.
2. Sie befinden sich in einer besonderen Situation, wenn ich das so vermuten darf. Zu Ihrem Studium haben Sie wahrscheinlich schon ein wenig Abstand genommen. Es liegt ja schon ein paar Tage her. Vielleicht hat sich bereits ein anderer Tagesrhythmus eingestellt. Sie befinden sich am Anfang Ihrer Karriere, oder eventuell etwas passender gesagt: Am Anfang eines neuen Abschnitts Ihrer Biographie.
Ich möchte heute Abend mit Ihnen über das Ende reden. Nicht über das Ende Ihrer Biographie. Sondern über das Ende des Designs. Über das Ende des Designs, wie wir es kennen. Wie wir glauben, es zu kennen. Oder wie wir glaubten, es zu kennen.
Anfang und Ende liegen beieinander, dicht, unmittelbar, oder auch unmerklich. Angeblich wohnt allem Anfang ein Zauber inne, aber das halte ich für Kokolores. Sentimentales Geschwafel. Es mag Ausnahmen geben, das will ich zugestehen. Aber man müsste für das Erleben dieses Zaubers doch erstmal wissen, dass der Anfang auch wirklich anfängt. Es braucht eine harte Schwelle, die überschritten wird. Eine Grenze, die übertreten wird. Einen bewussten, absichtlichen Impuls.
Was hat sich denn geändert, seitdem Sie Ihr Studium absolviert haben? Sie haben vermutlich vorher Design gemacht, dann gab’s eine Urkunde, eine Feier, ein Besäufnis, dann haben Sie weitergemacht. Und, hat sich was geändert?
Meistens schreiten wir doch nicht bewusst voran, einen Schritt nach dem anderen setzend wie beim Treppensteigen. Selten ist es der harte Abbruch, der einen Aufbruch in Gang setzt. Übergänge stellen sich meist fließend ein, als behutsame Phasenwechsel. Aus einem Auftrag pro Woche werden zwei, drei. Wird dichte Zusammenarbeit. Formiert sich ein Start-Up. Das gilt sowohl fürs alltägliche Leben der Einzelnen wie auch für größere Zusammenhänge, für Unternehmen, Organisationen und Gesellschaften.
Dass sich wirklich etwas geändert hat, realisieren wir erst, wenn wir für einen Moment innehalten und zurückblicken.
Vielleicht ist der heutige Abend ein solcher Moment, bei dem Anfang und Ende zusammenliegen, Anfang Ihres weiteren Weges als Designerin und Designer, und Ende des Designs. Was meine ich damit?
3. Ich habe den Eindruck, dass wir uns seit ein paar Jahren in einer Situation befinden, die vergleichbar ist mit der Situation, die den Anfang des Designs markiert. Vor etwa 200 Jahren ist eine neue Kraft spürbar geworden, die mit überwältigender Energie alle Facetten des menschlichen Daseins grundlegend verändert hat: Die Moderne. Das Design ist ihr Kind, der technischen wie auch der kulturellen Moderne.
Die Moderne gewinnt ihre Antriebs- und Anziehungskraft aus der Verbindung von rationaler Wissenschaft und technischer Industrialiserung. Sie führt überall zu Beschleunigung, Maschinisierung und Elektrifizierung. Die über Jahrhunderte gewachsenen Städte und ihre Straßen, Plätze und Häuser, die Räume und ihre Ausstattung verändern ihre Erscheinung, ihren gewohnten Zusammenhang, ihre gelernte Bedeutung.
Kulturell und gesellschaftlich ist mit Moderne ein neues Lebensgefühl gemeint, das ganz in der Zeitgenossenschaft aufgeht. Modern sein heißt, mit Haut und Haaren im hier und jetzt aufzugehen. Traditionen über Bord werfen. Die Stile der Vergangenheit auf den Müllhaufen der Geschichte verfrachten. Sich an der Zukunft ausrichten, nicht am Herkommen.
Diese Moderne hat einen Serienerfolg hervorgebracht, das sogenannte Produkt. Vom Löffel bis zur Stadt wird alles zum Produkt: Gebäude, Räume, Gegenstände und Botschaften. Das Produkt ist nicht nur ein Segen für die Menschheit. Es ist ja nicht nur großartig, dass eine Tasse, ein Teller, ein Stuhl und eine Lampe heute kein Vermögen mehr kosten. Das Produkt ist auch ein Problem. Das Produkt ist von Anfang an ein Problem. Darin besteht die vielbeschriebene Dialektik der Moderne, dass sie zugleich Segen und Fluch, Problem und Lösung ist.
Zwar erkennen ein paar Hellsichtige diesen Zusammenhang von Anfang an. Sie diskutieren in engen Zirkeln die Notwendigkeit zeitgenössischer, neuer Gestaltung schon seit den 1820er Jahren. Aber erst 1851 wird die Veränderung für jedermann schlagartig offenbar. In der ersten Weltausstellung in London werden hunderttausend industriell gefertigte Gegenstände gezeigt, und zu den allermeisten fällt den Zeitgenossen nur ein Wort ein: Scheußlich. Ein einziges Chaos. Die äußere Erscheinung von Häusern, Stühlen, Leuchten und Waren aller Art imitiert historische Stile vergangener Epochen. Diese Artefakte geben nur vor, von Hand gefertigt worden zu sein, denn ihr Äußeres stammt noch aus den traditionellen Musterbüchern der Handwerker. Für die kritischen Stimmen ist diese häßliche, ungestalte Oberfläche ein Spiegel ihrer maschinellen Herstellungsweise in Fabriken. Dort herrschen unerträgliche Zustände, in denen nicht nur die Menschen dem Takt des Fließbandes unterworfen sind, sondern auch die Natur ausgebeutet wird. Es sind menschenunwürdige Umstände, in denen der Mensch sich selbst und seiner Arbeit entfremdet wird.
Kaum also, dass das moderne Design zutage tritt, formiert sich auch schon Widerstand dagegen. Die Protestbewegung im England des späten 19. Jahrhunderts gibt sich den Namen »Arts and Crafts Movement«. Sie will den Siegeszug der Maschinen stoppen. Es sind Maschinenstürmer, die den Lauf der Zeit zurückdrehen wollten. An die Stelle der industriellen soll wieder die handwerkliche Produktion treten. Anstatt minderwertiger Güter sollen wieder qualitativ hochwertige Erzeugnisse hervorgebracht werden. Keine Stil-Imitate, keine wertlosen Surrogate mit möglichst kurzer Haltbarkeit, deren Formen sich mit den wechselnden Launen der Mode ändern, sondern Originale mit originärer Gestaltung. Kurz und bündig: Zurück ins Mittelalter!
Dieser Reflex der Hilflosigkeit, diese Flucht in eine romantisch verklärte Vergangenheit, die es nie gab, beobachten wir auch heute, wenn wir all das hübsch dekorierte Gemütliche sehen, das nachbarschaftlich Überschaubare und flott Begreifbare, den kleinen Maßstab und den engen Radius, weil das Komplexe und Neue zu ungewiss, zu unsicher und zu anstrengend erscheinen.
Deshalb erinnere ich gerne an William Morris, der versuchte, die Utopie John Ruskins zu verwirklichen. Er baut 1859 sein eigenes Haus, seine eigenen Möbel, und gründet seine eigene Firma: Morris, Marshall & Faulkner, Kunsthandwerker für Malerei, Schnitzerei, Möbel und Metallarbeiten. Morris scheitert jedoch an der ökonomischen Wirklichkeit. Er wünscht sich zwar sehnlichst, dass hochwertige handwerkliche Erzeugnisse für jedermann erschwinglich sein sollen, weil er daran glaubt, dass ein besserer Geschmack und besser gestaltete Produkte dazu in der Lage wären, eine bessere Gesellschaft herbeizuführen. Aber wie er zugeben muss, ist es unmöglich, solche Häuser, Stühle, Tische und Bücher zu einem niedrigen Preis herzustellen. Seine Arbeit ist nur wenigen vermögenden Kennern zugänglich. Er schuf, wie er es am Ende seines Lebens ernüchtert ausdrückte, »Kunst für den schweinischen Luxus der Reichen«.
4. Seit 200 Jahren verspricht die Moderne, Erleichterungen vom Mühsal des Alltags zu verschaffen. Sie sei Dienst an den 99% der schuftenden Bevölkerung. Das ist die soziale Utopie des Designs.
Doch es brauchte fast ebenso lang, bis die dynamische Entwicklung der technischen Zivilisation auch nur ansatzweise kulturell bewältigt war. Bis wir einen emanzipierten Umgang mit den Dingen der Industrien eingeübt hatten. Bis wir der Magie der Dinge nicht mehr machtlos unterworfen waren, bis die Geheimen Verführer enttarnt waren und wir auf angemessener Reflexionshöhe über den vergessenen Symbolismus in der Gestaltung unserer Umwelt streiten konnten. So lange hat es gedauert, bis wir dieses Design ungefähr begriffen hatten. Das Phänomen war längst da, unsere Sprache brauchte Zeit, uns diese Veränderung bewusst zu machen und in Worten zum Ausdruck zu bringen.
Jetzt ist wieder so ein Zeitpunkt da, ein Phasenwechsel. Wieder hat sich etwas so fundamental verändert, aber wir tun noch so, als ob alles gleich wäre, nur ein bischen anders. Same same, but different.
Ja, John Maeda ist nicht mehr Präsident der Rhode Island School of Design, er ist jetzt bei einer Investmentfirma, die sich um Geschäftsmodelle des Digitalen kümmert. Aber eigentlich geht es bei ihm doch immer noch um Design. Oder?
Nein, das Design ist am Ende. Wir stecken mitten in etwas Neuem, für das wir noch keinen Namen gefunden haben. Irgendwas mit Pixeln, irgendwas mit Algorithmen. Irgendwas wie Digitalisierung. Es geht hier nicht mehr um die kommerzielle Gestaltung von Serienprodukten und Botschaften in industriellen Prozessen. Das war Design. Dieses Neue, dieser Digitalisierung genannte historische Prozess, atomisiert ja gerade diese Vertrautheit der industriellen Zusammenhänge.
Dieses Neue muss kulturell bewältigt werden. So wie in der Moderne das Design kulturell bewältigt werden musste. Das ist Vergangenheit.
Möglicherweise wird in einer künftigen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte die Vorstellung des ersten iPhones vor 10 Jahren als einer dieser Momente geschildert werden, bei dem sich erst aus der Rückschau herausgestellt hat, das eine neuer Impuls von ungeahnter Kraft die grundlegende Tektonik der Welt in Bewegung versetzt hat. Das iPhone – verstanden als Kulminationspunkt eines umfassenden Systems – hat die industrielle, technische Zivilisation kulturell bewältigt. Und zugleich bildet es den Anfang von etwas ganz Neuem. Hier stellen sich uns so fundamental neue Aufgaben, weil die alten Beziehungsgefüge aus dem Lot geraten sind, dass wir mit den alten Strategien des Designs keine angemessenen Lösungen entwickeln werden.
Vor 100 Jahren bestanden die Aufgaben in der Bewältigung von Elektrifizierung, Demokratisierung und Emanzipation – mit den Worten von heute ausgedrückt! Heute stehen wir vor Aufgaben, die wir völlig unzureichend als Mobilisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz bezeichnen.
Ein Paradigma der gestalterischen Moderne lautete, Technik als Technik sichtbar zu machen. Die Transparenz der Erscheinungen, der Gebäude, Räume und Geräte, sollte die Transparenz der Abläufe, Interessen und Machtverhältnisse ermöglichen. Heute aber erleben wir, dass die Technik sich auflöst. Die Sensoren, die uns umgeben, werden unsichtbar. Das Ding, das wir nicht mehr aus unserer Hand legen wollen und das vorgibt, nur eine Glasscheibe zu sein, ist in seinen Funktionen und deren Folgen für uns völlig undurchsichtig. Das Verschwinden der Dinge muss kulturell bewältigt werden.
Mit den Dingen verschwindet auch die Verantwortung. Möglicherweise wird in einer künftigen Geschichte dieser neuen Epoche, die ich die Digitale nennen möchte, der Schock geschildert, der einen Teil der Menschheit erfasst hat, als Donald Trump gewählt wurde. Ich vermute, dass dieser Schock vergleichbar ist mit dem Entsetzen, dass viele Menschen im Londoner Glaspalast 1851 empfunden haben. Ein ungläubiges Kopfschütteln angesichts des Verschwindens der Verantwortung. Es war einfach bisher nicht vorstellbar, dass die gesamte US-amerikanische Wahlbevölkerung dank Big Data in ihren Persönlichkeitsstrukturen erfassbar und über Facebook mit tatsächlich individuellen Botschaften erreichbar wäre. Manipulierbar wäre. 80.000 Stimmen Vorsprung genügten. Aber vorherzusagen, um welche Stimmen es sich handelte und wie sie zu motivieren wären, das ist neu. Und an all den vielen kleinen Tätigkeiten, die dafür notwendig gewesen sind, waren Designerinnen und Designer beteiligt.
Ganz sicher wird in einer künftigen Geschichte der Digitale auch das nächste große Sozialexperiment einen Platz finden, das jetzt initiiert wurde, die totale Kontrolle des Lebens aller Menschen in China mit einem Punktesystem, vom Übertreten der roten Ampel übers Sprechen mit den falschen Freunden bis zum Verbreiten kritischer Äußerungen. »The map is not the territory«, lautet ein weiterer Leitsatz der Moderne. Das ist so was von gestern. Google Maps ist längst im Maßstab 1:1 für uns verfügbar, jederzeit, überall. Die Karte ist keine Darstellung mehr, sie ist die Wirklichkeit. Das Ranking ist kein Hinweis mehr, es ist die Wirklichkeit. Präzise, von uns selbst mit Hingabe gepflegte und kontinuierlich gefütterte Daten ermöglichen die Identifikation der Persönlichkeit mit allen Vorlieben, Neigungen, Werten und Wünschen, dem favorisierten Medienkonsum, dem medizinisch-biologischen Fitness-Zustand und Verbrauchsgewohnheiten und dem tatsächlichen Aufenthaltsort im physischen Raum – in Echtzeit. Das hat es noch nie gegeben. Noch nie. Es ist eine völlig neue Situation.
5. Ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie konservativ das Design als Branche ist. Größte Aufmerksamkeit gilt weiterhin der Gestaltung von Oberflächen. Ich wünsche mir jetzt keine Maschinenstürmer zurück, auch keine Bilderstürmer, also im übertragenen Sinne Sensorenstürmer, Datenstürmer, Botstürmer. Ich wundere mich nur, dass die hundert Jahre alte Diagnose von Albert Einstein auch heute noch und wieder gilt: Unsere Situation ist gekennzeichnet durch höchste Genauigkeit der Werkzeuge bei gleichzeitig größter Verworrenheit der Ziele.
Worauf ich hinaus möchte: Vergessen wir das Design, wie wir es kennen. Es war eine schöne Zeit. Sie ist vorbei, sie liegt hinter uns. Widmen wir uns mit allem, was wir können und mögen, mit kritischem Denken, Nachdenken und Vorausdenken, mit selbstbewusster Urteilskraft, mit Entschlossenheit, Zuversicht und Courage, und nicht zuletzt mit humanistischen Zielen – widmen wir uns der Gestaltung des Neuen. Der Gestaltung der Digitale, wenn Sie so wollen.
Deshalb bitte ich Sie, ich appelliere an Sie: Lassen Sie sich nicht einlullen. Lassen Sie sich nicht ablenken.
Und bleiben Sie Ihren Hochschulen verbunden, bleiben Sie mit uns in Verbindung. Wir schaffen das an den Hochschulen nicht alleine. Wir brauchen Sie.
Überlassen wir die Gestaltung der Welt nicht denjenigen, die für Gestaltung nichts übrig haben.
+++
Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Willkommen in der Digitale, oder: Das Ende des Designs (wie wir es kennen)
Abbildung: Herbert Bayer/dorland-studios Berlin, Entwurf für »die neue linie« (1929)
Vortrag zur Verleihung des 10. Kölner Designpreis im Museum für Angewandte Kunst Köln MAKK, 26.10.2017
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1.
Guten Abend! Herzlichen Dank für die freundliche Einführung. Und vielen Dank dafür, dass Sie alle mir die Gelegenheit bieten, ein paar Gedanken mit Ihnen auszutauschen.
Ich möchte mich heute anlässlich der Vergabe des zehnten Kölner Design-Preises explizit an die Absolventinnen und Absolventen der Designhochschulen richten. Denn Sie stehen im Mittelpunkt dieses Preises.
2.
Sie befinden sich in einer besonderen Situation, wenn ich das so vermuten darf. Zu Ihrem Studium haben Sie wahrscheinlich schon ein wenig Abstand genommen. Es liegt ja schon ein paar Tage her. Vielleicht hat sich bereits ein anderer Tagesrhythmus eingestellt. Sie befinden sich am Anfang Ihrer Karriere, oder eventuell etwas passender gesagt: Am Anfang eines neuen Abschnitts Ihrer Biographie.
Ich möchte heute Abend mit Ihnen über das Ende reden. Nicht über das Ende Ihrer Biographie. Sondern über das Ende des Designs. Über das Ende des Designs, wie wir es kennen. Wie wir glauben, es zu kennen. Oder wie wir glaubten, es zu kennen.
Anfang und Ende liegen beieinander, dicht, unmittelbar, oder auch unmerklich. Angeblich wohnt allem Anfang ein Zauber inne, aber das halte ich für Kokolores. Sentimentales Geschwafel. Es mag Ausnahmen geben, das will ich zugestehen. Aber man müsste für das Erleben dieses Zaubers doch erstmal wissen, dass der Anfang auch wirklich anfängt. Es braucht eine harte Schwelle, die überschritten wird. Eine Grenze, die übertreten wird. Einen bewussten, absichtlichen Impuls.
Was hat sich denn geändert, seitdem Sie Ihr Studium absolviert haben? Sie haben vermutlich vorher Design gemacht, dann gab’s eine Urkunde, eine Feier, ein Besäufnis, dann haben Sie weitergemacht. Und, hat sich was geändert?
Meistens schreiten wir doch nicht bewusst voran, einen Schritt nach dem anderen setzend wie beim Treppensteigen. Selten ist es der harte Abbruch, der einen Aufbruch in Gang setzt. Übergänge stellen sich meist fließend ein, als behutsame Phasenwechsel. Aus einem Auftrag pro Woche werden zwei, drei. Wird dichte Zusammenarbeit. Formiert sich ein Start-Up. Das gilt sowohl fürs alltägliche Leben der Einzelnen wie auch für größere Zusammenhänge, für Unternehmen, Organisationen und Gesellschaften.
Dass sich wirklich etwas geändert hat, realisieren wir erst, wenn wir für einen Moment innehalten und zurückblicken.
Vielleicht ist der heutige Abend ein solcher Moment, bei dem Anfang und Ende zusammenliegen, Anfang Ihres weiteren Weges als Designerin und Designer, und Ende des Designs. Was meine ich damit?
3.
Ich habe den Eindruck, dass wir uns seit ein paar Jahren in einer Situation befinden, die vergleichbar ist mit der Situation, die den Anfang des Designs markiert. Vor etwa 200 Jahren ist eine neue Kraft spürbar geworden, die mit überwältigender Energie alle Facetten des menschlichen Daseins grundlegend verändert hat: Die Moderne. Das Design ist ihr Kind, der technischen wie auch der kulturellen Moderne.
Die Moderne gewinnt ihre Antriebs- und Anziehungskraft aus der Verbindung von rationaler Wissenschaft und technischer Industrialiserung. Sie führt überall zu Beschleunigung, Maschinisierung und Elektrifizierung. Die über Jahrhunderte gewachsenen Städte und ihre Straßen, Plätze und Häuser, die Räume und ihre Ausstattung verändern ihre Erscheinung, ihren gewohnten Zusammenhang, ihre gelernte Bedeutung.
Kulturell und gesellschaftlich ist mit Moderne ein neues Lebensgefühl gemeint, das ganz in der Zeitgenossenschaft aufgeht. Modern sein heißt, mit Haut und Haaren im hier und jetzt aufzugehen. Traditionen über Bord werfen. Die Stile der Vergangenheit auf den Müllhaufen der Geschichte verfrachten. Sich an der Zukunft ausrichten, nicht am Herkommen.
Diese Moderne hat einen Serienerfolg hervorgebracht, das sogenannte Produkt. Vom Löffel bis zur Stadt wird alles zum Produkt: Gebäude, Räume, Gegenstände und Botschaften. Das Produkt ist nicht nur ein Segen für die Menschheit. Es ist ja nicht nur großartig, dass eine Tasse, ein Teller, ein Stuhl und eine Lampe heute kein Vermögen mehr kosten. Das Produkt ist auch ein Problem. Das Produkt ist von Anfang an ein Problem. Darin besteht die vielbeschriebene Dialektik der Moderne, dass sie zugleich Segen und Fluch, Problem und Lösung ist.
Zwar erkennen ein paar Hellsichtige diesen Zusammenhang von Anfang an. Sie diskutieren in engen Zirkeln die Notwendigkeit zeitgenössischer, neuer Gestaltung schon seit den 1820er Jahren. Aber erst 1851 wird die Veränderung für jedermann schlagartig offenbar. In der ersten Weltausstellung in London werden hunderttausend industriell gefertigte Gegenstände gezeigt, und zu den allermeisten fällt den Zeitgenossen nur ein Wort ein: Scheußlich. Ein einziges Chaos. Die äußere Erscheinung von Häusern, Stühlen, Leuchten und Waren aller Art imitiert historische Stile vergangener Epochen. Diese Artefakte geben nur vor, von Hand gefertigt worden zu sein, denn ihr Äußeres stammt noch aus den traditionellen Musterbüchern der Handwerker. Für die kritischen Stimmen ist diese häßliche, ungestalte Oberfläche ein Spiegel ihrer maschinellen Herstellungsweise in Fabriken. Dort herrschen unerträgliche Zustände, in denen nicht nur die Menschen dem Takt des Fließbandes unterworfen sind, sondern auch die Natur ausgebeutet wird. Es sind menschenunwürdige Umstände, in denen der Mensch sich selbst und seiner Arbeit entfremdet wird.
Kaum also, dass das moderne Design zutage tritt, formiert sich auch schon Widerstand dagegen. Die Protestbewegung im England des späten 19. Jahrhunderts gibt sich den Namen »Arts and Crafts Movement«. Sie will den Siegeszug der Maschinen stoppen. Es sind Maschinenstürmer, die den Lauf der Zeit zurückdrehen wollten. An die Stelle der industriellen soll wieder die handwerkliche Produktion treten. Anstatt minderwertiger Güter sollen wieder qualitativ hochwertige Erzeugnisse hervorgebracht werden. Keine Stil-Imitate, keine wertlosen Surrogate mit möglichst kurzer Haltbarkeit, deren Formen sich mit den wechselnden Launen der Mode ändern, sondern Originale mit originärer Gestaltung. Kurz und bündig: Zurück ins Mittelalter!
Dieser Reflex der Hilflosigkeit, diese Flucht in eine romantisch verklärte Vergangenheit, die es nie gab, beobachten wir auch heute, wenn wir all das hübsch dekorierte Gemütliche sehen, das nachbarschaftlich Überschaubare und flott Begreifbare, den kleinen Maßstab und den engen Radius, weil das Komplexe und Neue zu ungewiss, zu unsicher und zu anstrengend erscheinen.
Deshalb erinnere ich gerne an William Morris, der versuchte, die Utopie John Ruskins zu verwirklichen. Er baut 1859 sein eigenes Haus, seine eigenen Möbel, und gründet seine eigene Firma: Morris, Marshall & Faulkner, Kunsthandwerker für Malerei, Schnitzerei, Möbel und Metallarbeiten. Morris scheitert jedoch an der ökonomischen Wirklichkeit. Er wünscht sich zwar sehnlichst, dass hochwertige handwerkliche Erzeugnisse für jedermann erschwinglich sein sollen, weil er daran glaubt, dass ein besserer Geschmack und besser gestaltete Produkte dazu in der Lage wären, eine bessere Gesellschaft herbeizuführen. Aber wie er zugeben muss, ist es unmöglich, solche Häuser, Stühle, Tische und Bücher zu einem niedrigen Preis herzustellen. Seine Arbeit ist nur wenigen vermögenden Kennern zugänglich. Er schuf, wie er es am Ende seines Lebens ernüchtert ausdrückte, »Kunst für den schweinischen Luxus der Reichen«.
4.
Seit 200 Jahren verspricht die Moderne, Erleichterungen vom Mühsal des Alltags zu verschaffen. Sie sei Dienst an den 99% der schuftenden Bevölkerung. Das ist die soziale Utopie des Designs.
Doch es brauchte fast ebenso lang, bis die dynamische Entwicklung der technischen Zivilisation auch nur ansatzweise kulturell bewältigt war. Bis wir einen emanzipierten Umgang mit den Dingen der Industrien eingeübt hatten. Bis wir der Magie der Dinge nicht mehr machtlos unterworfen waren, bis die Geheimen Verführer enttarnt waren und wir auf angemessener Reflexionshöhe über den vergessenen Symbolismus in der Gestaltung unserer Umwelt streiten konnten. So lange hat es gedauert, bis wir dieses Design ungefähr begriffen hatten. Das Phänomen war längst da, unsere Sprache brauchte Zeit, uns diese Veränderung bewusst zu machen und in Worten zum Ausdruck zu bringen.
Jetzt ist wieder so ein Zeitpunkt da, ein Phasenwechsel. Wieder hat sich etwas so fundamental verändert, aber wir tun noch so, als ob alles gleich wäre, nur ein bischen anders. Same same, but different.
Ja, John Maeda ist nicht mehr Präsident der Rhode Island School of Design, er ist jetzt bei einer Investmentfirma, die sich um Geschäftsmodelle des Digitalen kümmert. Aber eigentlich geht es bei ihm doch immer noch um Design. Oder?
Nein, das Design ist am Ende. Wir stecken mitten in etwas Neuem, für das wir noch keinen Namen gefunden haben. Irgendwas mit Pixeln, irgendwas mit Algorithmen. Irgendwas wie Digitalisierung. Es geht hier nicht mehr um die kommerzielle Gestaltung von Serienprodukten und Botschaften in industriellen Prozessen. Das war Design. Dieses Neue, dieser Digitalisierung genannte historische Prozess, atomisiert ja gerade diese Vertrautheit der industriellen Zusammenhänge.
Dieses Neue muss kulturell bewältigt werden. So wie in der Moderne das Design kulturell bewältigt werden musste. Das ist Vergangenheit.
Möglicherweise wird in einer künftigen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte die Vorstellung des ersten iPhones vor 10 Jahren als einer dieser Momente geschildert werden, bei dem sich erst aus der Rückschau herausgestellt hat, das eine neuer Impuls von ungeahnter Kraft die grundlegende Tektonik der Welt in Bewegung versetzt hat. Das iPhone – verstanden als Kulminationspunkt eines umfassenden Systems – hat die industrielle, technische Zivilisation kulturell bewältigt. Und zugleich bildet es den Anfang von etwas ganz Neuem. Hier stellen sich uns so fundamental neue Aufgaben, weil die alten Beziehungsgefüge aus dem Lot geraten sind, dass wir mit den alten Strategien des Designs keine angemessenen Lösungen entwickeln werden.
Vor 100 Jahren bestanden die Aufgaben in der Bewältigung von Elektrifizierung, Demokratisierung und Emanzipation – mit den Worten von heute ausgedrückt! Heute stehen wir vor Aufgaben, die wir völlig unzureichend als Mobilisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz bezeichnen.
Ein Paradigma der gestalterischen Moderne lautete, Technik als Technik sichtbar zu machen. Die Transparenz der Erscheinungen, der Gebäude, Räume und Geräte, sollte die Transparenz der Abläufe, Interessen und Machtverhältnisse ermöglichen. Heute aber erleben wir, dass die Technik sich auflöst. Die Sensoren, die uns umgeben, werden unsichtbar. Das Ding, das wir nicht mehr aus unserer Hand legen wollen und das vorgibt, nur eine Glasscheibe zu sein, ist in seinen Funktionen und deren Folgen für uns völlig undurchsichtig. Das Verschwinden der Dinge muss kulturell bewältigt werden.
Mit den Dingen verschwindet auch die Verantwortung. Möglicherweise wird in einer künftigen Geschichte dieser neuen Epoche, die ich die Digitale nennen möchte, der Schock geschildert, der einen Teil der Menschheit erfasst hat, als Donald Trump gewählt wurde. Ich vermute, dass dieser Schock vergleichbar ist mit dem Entsetzen, dass viele Menschen im Londoner Glaspalast 1851 empfunden haben. Ein ungläubiges Kopfschütteln angesichts des Verschwindens der Verantwortung. Es war einfach bisher nicht vorstellbar, dass die gesamte US-amerikanische Wahlbevölkerung dank Big Data in ihren Persönlichkeitsstrukturen erfassbar und über Facebook mit tatsächlich individuellen Botschaften erreichbar wäre. Manipulierbar wäre. 80.000 Stimmen Vorsprung genügten. Aber vorherzusagen, um welche Stimmen es sich handelte und wie sie zu motivieren wären, das ist neu. Und an all den vielen kleinen Tätigkeiten, die dafür notwendig gewesen sind, waren Designerinnen und Designer beteiligt.
Ganz sicher wird in einer künftigen Geschichte der Digitale auch das nächste große Sozialexperiment einen Platz finden, das jetzt initiiert wurde, die totale Kontrolle des Lebens aller Menschen in China mit einem Punktesystem, vom Übertreten der roten Ampel übers Sprechen mit den falschen Freunden bis zum Verbreiten kritischer Äußerungen. »The map is not the territory«, lautet ein weiterer Leitsatz der Moderne. Das ist so was von gestern. Google Maps ist längst im Maßstab 1:1 für uns verfügbar, jederzeit, überall. Die Karte ist keine Darstellung mehr, sie ist die Wirklichkeit. Das Ranking ist kein Hinweis mehr, es ist die Wirklichkeit. Präzise, von uns selbst mit Hingabe gepflegte und kontinuierlich gefütterte Daten ermöglichen die Identifikation der Persönlichkeit mit allen Vorlieben, Neigungen, Werten und Wünschen, dem favorisierten Medienkonsum, dem medizinisch-biologischen Fitness-Zustand und Verbrauchsgewohnheiten und dem tatsächlichen Aufenthaltsort im physischen Raum – in Echtzeit. Das hat es noch nie gegeben. Noch nie. Es ist eine völlig neue Situation.
5.
Ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie konservativ das Design als Branche ist. Größte Aufmerksamkeit gilt weiterhin der Gestaltung von Oberflächen. Ich wünsche mir jetzt keine Maschinenstürmer zurück, auch keine Bilderstürmer, also im übertragenen Sinne Sensorenstürmer, Datenstürmer, Botstürmer. Ich wundere mich nur, dass die hundert Jahre alte Diagnose von Albert Einstein auch heute noch und wieder gilt: Unsere Situation ist gekennzeichnet durch höchste Genauigkeit der Werkzeuge bei gleichzeitig größter Verworrenheit der Ziele.
Worauf ich hinaus möchte: Vergessen wir das Design, wie wir es kennen. Es war eine schöne Zeit. Sie ist vorbei, sie liegt hinter uns. Widmen wir uns mit allem, was wir können und mögen, mit kritischem Denken, Nachdenken und Vorausdenken, mit selbstbewusster Urteilskraft, mit Entschlossenheit, Zuversicht und Courage, und nicht zuletzt mit humanistischen Zielen – widmen wir uns der Gestaltung des Neuen. Der Gestaltung der Digitale, wenn Sie so wollen.
Deshalb bitte ich Sie, ich appelliere an Sie: Lassen Sie sich nicht einlullen. Lassen Sie sich nicht ablenken.
Und bleiben Sie Ihren Hochschulen verbunden, bleiben Sie mit uns in Verbindung. Wir schaffen das an den Hochschulen nicht alleine. Wir brauchen Sie.
Überlassen wir die Gestaltung der Welt nicht denjenigen, die für Gestaltung nichts übrig haben.
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