Am Ende stand der Silberprinz an der Wand: Walter Gropius, die elegante Erscheinung, der weltmännische Grandseigneur, war nach Stuttgart gereist. Im Kunstverein sollte am 21. April 1968 die Retrospektive aufs Bauhaus eröffnet werden. Es war die fulminante Schau, die knapp 50 Jahre nach Gründung zur Wiederentdeckung des Bauhaus führen sollte. Herbert Bayer hatte dafür ein Plakat gestaltet, das seither zu den am häufigsten gezeigten Bauhaus- Bildern zählt, weil es die oberflächlichsten Symbole der Vereinfachung mit emblematischer Wirkung kombiniert: die Trikolore aus Rot-Gelb-Blau auf den geometrischen Grundformen Quadrat, Kreis und gleichseitiges Dreieck. Heute, wieder 50 Jahre später, wird das Bauhaus vielfach auf dieses visuelle Klischee eingedampft. Walter Gropius sah sich am 21. April 1968 mit einer ganz anderen Form der stereotypen Vereinfachung konfrontiert: Junge Menschen empörten sich darüber, dass die Schließung der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm unmittelbar bevorstand, während sich Honoratioren aus aller Welt ein Stelldichein zum Gedenken an die kulturellen Leistungen gaben. „beweint das bauhaus und bewahrt die hfg“, in signifikanter Kleinschreibung, zählte zu den harmlosen Parolen auf den Plakaten der Demonstranten. „50 jahre repression weimar dessau berlin ulm“ lässt schon mehr Schärfe im Ton anklingen, der unter dem Eindruck angestimmt wurde, dass sich eine unerträgliche Kontinuität des Nazi-Regimes bis in die Gegenwart erhalten hatte, verkörpert etwa in der Person des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger. Sein Büro befand sich in Rufweite zum Kunstverein.
Gropius griff in den Arkaden des Ausstellungsgebäudes zum Megaphon, sprach zu den versammelten HfG-Angehörigen, Herbert Bayers Werbe-Schriftzug „bauhaus“ schwebte über seinem Kopf. Der Moment, festgehalten von einem Pressefotografen, markierte den Endpunkt einer Etappe in der Beziehung zwischen Bauhaus und HfG, zwischen Weimarer und Bonner Republik, zwischen Kunst und Design. Es war eine spannungsgeladene Beziehung, von Anfang an. Wie in einer Ehe: Die Akteure sind umgeben von einem gemeinsamen Kreis wohlgesinnter Freunde und Förderer, die kaum nachvollziehen können, warum sich die beiden permanent in den Haaren liegen, warum die gegenseitigen Abstoßungskräfte so viel stärker sind als die der Anziehung, da doch von außen das Verbindende so viel deutlicher zutage tritt als das Trennende. Bauhaus und Ulm verbindet manche Gemeinsamkeit.
Grundlegend ist die Erfahrung brutaler Gewalt, die für die Angehörigen beider Institutionen prägend war. In Weimar und Dessau ist es der Erste Weltkrieg. In Ulm sind es die Gewaltherrschaft der Nazis und der Zweite Weltkrieg. Zweimal entfesselter Wahnsinn, dessen Erlebnisse von Intellektuellen und Künstlern verarbeitet werden.
Dann ist da ein einfaches Wort, das Bauhaus und HfG verbindet: Gestaltung. Heute ein geläufiges Wort, aber für die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts handelt es sich um einen Reformbegriff. Es ist ihr verbaler Schlüssel zu einer umfassenden neuen Perspektive auf die Welt. Der Gestalttheorie zufolge nehmen Menschen jegliche „Gestalt“ nicht in einzelnen Aspekten wahr, sondern als Ganzheit und in Wechselwirkung mit der Umgebung. Daraus folgt der berühmte (und oft falsch zitierte) Satz: „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile.“ Und daraus leitet sich der Anspruch ab, dass mit Gestaltung eine ganzheitliche Formgebung unter Berücksichtigung aller Zusammenhänge gemeint ist. Wer nur die äußere Hülle eines Gegenstands konturiert, erzeugt Deformation. Das Bauhaus griff den Gestalt-Begriff auf und führte in Dessau den programmatischen Untertitel „Hochschule für Gestaltung“.
Der Anspruch auf allumfassende Gestaltung verweist zugleich auf den größten Unterschied zwischen Bauhaus und HfG: Wenn Gestaltung bedeutet, dass alle relevanten Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden müssen (weil sie auch alle das Erleben einer Gestalt beeinflussen), dann braucht es eine Instanz, die Prioritäten setzt. Das Bauhaus unter Walter Gropius stand unter dem Paradigma vom Gesamtkunstwerk. Der Architekt Gropius forderte, dass in der Architektur alle künstlerischen Anstrengungen zusammengeführt werden. In seinem Manifest von 1919 verkündete er: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeiten ist der Bau!“ Damit fällt dem Architekten die Rolle der Instanz zu, die dafür zu sorgen hat, dass die Kunst zum Leben wird und das Leben zur Kunst. Das Bauhaus hat sich zum Ziel gesetzt, ein ästhetisches Defizit zu beheben.
Zum gegensätzlichen Schluss gelangte eine Generation später eine kleine Gruppe junger Menschen in Ulm: der Ulmer Kreis, den Inge Scholl und Otl Aicher um sich scharten. Inge Scholl war die älteste Schwester von Hans und Sophie Scholl, den jugendlichen Widerstandskämpfern, die 1943 von den Nazis ermordet worden waren. Ihr Schulfreund Otl Aicher war der Verhaftung und Ermordung nur um Haaresbreite entgangen. Im Frühjahr 1946 nahm Aicher ein Studium der Bildhauerei an der Münchner Kunstakademie auf – und brach es wenig später enttäuscht ab. In der Kunst sah er keine Hilfe, weder für die praktische Bewältigung des Alltags noch für die Vermittlung sittlicher und intellektueller Werte, die für den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Deutschland benötigt wurden, einer demokratischen, friedlichen, emanzipierten Zivilgesellschaft. Welch eine Utopie zu dieser Zeit! Für die neue Gesellschaft suchte er nach neuen Formen. Die zerstörten Städte wollte er nicht einfach rekonstruieren, als ob nichts gewesen wäre. Maßstäbe, die in der Kunst gelten, waren nach Aichers Überzeugung für die neue Gestaltungsaufgabe irrelevant. Er wollte nicht den Alltag zur Kunst erheben. Die gestalterische Qualität von Gebrauchsgegenständen erforderte die Formulierung eigenständiger Kategorien und Kriterien. Das war die eigentliche Geburtsstunde des zeitgenössischen Designs. Das Credo: Kunst ist Kunst, und Design ist etwas anderes.
Dieser Impuls führte zur Gründung der HfG Ulm. Ihr Ziel bestand darin, ein gesellschaftliches Defizit zu beheben. In der HfG blieb die Erinnerung an die Weiße Rose stets präsent: Die einzigen Bilder von Menschen im gesamten Gebäude hingen im Rektorat – zwei kleine Porträts von Hans und Sophie Scholl.
Das Scharnier zwischen Bauhaus und Ulm bildete Max Bill: Schüler des Dessauer Bauhaus, ein eigenwilliger, zupackender Schweizer, der sich in den späten Dreißigern in Zürich einen Ruf als Taktgeber der jungen Riege antifaschistischer Gestalter erwarb. Das Spektrum seines Schaffens umspannte Architektur, Ausstellungen und Schaufenster, Reklame in Zeitungen und auf Plakaten, Schriften und Schriftzüge von Unternehmen, Möbel, Leuchten, Schreibmaschinen und Armbanduhren, Gemälde und Skulpturen, Aufsätze und Reden. Sogar einen bis heute folgenreichen Designpreis initiierte er: Die „Gute Form“ des Schweizerischen Werkbundes. Inge Scholl und Otl Aicher wurden 1946 auf Max Bill aufmerksam. Rasch gelang es, ihn in die Konzeption einzubinden. Noch rascher gelang es ihm, das Ruder zu übernehmen. Vehement sorgte er dafür, dass die diffusen gesellschaftspolitischen Überlegungen in einen konkreten Lehrplan für moderne gestalterische Berufe mündeten.
Die HfG wollte von Anfang an eine Elite von Multiplikatoren ausbilden, die fachliche Qualifikation mit breitem Allgemeinwissen und politischem Verantwortungsbewusstsein auszeichnet: Spezialisten waren für sie Sklaven. Am 3. August 1953 begann der Unterricht der HfG Ulm als erster privater Hochschule der Bundesrepublik. „Bundes- Bauhaus“ wurde sie spöttisch genannt oder „Kloster zum rechten Winkel“. Dabei hätten es sich die Ulmer leicht machen und den Namen „Bauhaus Ulm“ annehmen können. Gropius hatte es Bill angeboten. Aicher lehnte das ab. Dennoch klebte an der HfG von Anfang an das Etikett der Bauhaus-Nachfolge. Bis heute.
Daran sind die Gründer nicht unschuldig, denn um für ihren Plan bei Politik, Wirtschaft und Presse trotz der restaurativen Stimmung Unterstützer zu finden, warben sie damit, dass sie an der Stelle weitermachen wollten, wo das Bauhaus stünde, wenn es 1933 nicht geschlossen worden wäre.
Max Bills internationales Prestige zog Studenten und Dozenten an, nicht nur aus Deutschland und der Schweiz, auch aus Südamerika und den Vereinigten Staaten. Den ersten Grundkursus unterrichtete Walter Peterhans, der am Bauhaus die Fotografie-Werkstatt aufgebaut hatte. Es erschien gleich zweimal Josef Albers, der Bauhaus-Meister. Auch Johannes Itten, Albers’ Vorgänger am Bauhaus, unterrichtete für eine Woche in Ulm. Helene Nonné-Schmidt vermittelte die Lehre des Bauhaus-Typografen Joost Schmidt. Mies van der Rohe streifte über die Baustelle des Hochschulgebäudes, das nach den Plänen Max Bills von 1953 bis 1955 entstand – zu den Kosten eines gehobenen Einfamilienhauses, wie Bill hervorhob, was nicht nur ein Licht auf die minimale Unterstützung in Deutschland wirft, sondern auch auf den gehobenen Anspruch des Zürchers.
Gropius eröffnete die HfG-Gebäude am 1. und 2. Oktober in einer Feierstunde, an der bloß die zweite und dritte Riege politischer und gesellschaftlicher Prominenz teilnahmen. Was in Ulm geschah, war konservativen Kreisen suspekt (und zwar bis zur Schließung 1968). Gropius beschwor geradezu die versammelte Avantgarde, besonders die Ulmer Studenten, das Magische nicht aus der Kultur auszuklammern. Doch er stieß auf taube Ohren. Das Magische galt ihnen nicht nur als das Obskure, es stand auch in Verdacht, für die Überhöhung von Macht und Gewalt instrumentalisiert zu werden, so geschehen in Nazi-Deutschland.
Kurz nach der Eröffnung trennten sich die Ulmer von Max Bill in einem lauten und hässlichen Streit, der großen Schaden anrichtete. Von Bill blieb das Gebäude, einschließlich seiner eingekratzten Signatur in der Betonwand der Eingangshalle, die bis heute sichtbar ist.
Von 1957 an lautete die HfG-Parole: Verwissenschaftlichung der Gestaltung. Schärfer, unerbittlicher und radikaler als in Ulm erhob noch keine Designhochschule die nüchterne Vernunft, das sachliche Argument, die rationale Kritik zum Fixstern des Denkens, Redens und Handelns. Das romantische Ideal des Künstler- Genies wurde ersetzt durch den wissenschaftlich trainierten prozessorientierten Teamplayer. Künstlerische Grundlagen wie aus der Bauhaus-Grundlehre wurden von Tomás Maldonado schrittweise verändert und schließlich abgeschafft. Als junger argentinischer Maler hatte er noch eine Monografie über Bill veröffentlicht. 1954 trat er, kaum des Deutschen mächtig, in den Lehrkörper ein. Nach der Trennung von Bill übernahm er mit Aicher die Führung der HfG – und veröffentlichte Aufsätze zur Theorie des Designs, in denen er die Unterschiede zum Bauhaus immer wieder hervorhob.
In den folgenden zehn Jahren entstanden in der HfG die Entwürfe, die den Ulmer Ruf und Rang begründen: Systeme für die Gestaltung von Gerätschaften und Botschaften, visuelle Erscheinungsbilder, Konzepte für öffentliche Transportmittel, Methoden der Designlehre und der Designpraxis. Ulmer Absolventen verbreiteten das Gedankengut auf der ganzen Welt in Hochschulen und Unternehmen. Selbst das gegenwärtige Design von Apple lässt sich über die Brücke von Dieter Rams auf Hans Gugelots Arbeiten zurückführen.
Von 1965 an setzte sich eine Dynamik in Gang, die im Dezember 1968 zur Einstellung des Lehrbetriebs führte. Sie war unter anderem auf mangelhafte Verwaltung, Rückzug wichtiger Unterstützer, schlechte Presse und unversöhnliche Gegensätze in der HfG zurückzuführen. Die komplexe Wirklichkeit ist weit weg von der schlichten Erzählung, die böse Politik habe die HfG geschlossen. Doch diese Geschichte klingt einfach zu verführerisch, erst recht in Form all der Parolen, die Walter Gropius im April 1968 vor die Nase gehalten wurden – magische Formeln für den Mythos HfG Ulm.
Bauhaus und HfG Ulm
Am Ende stand der Silberprinz an der Wand: Walter Gropius, die elegante Erscheinung, der weltmännische Grandseigneur, war nach Stuttgart gereist. Im Kunstverein sollte am 21. April 1968 die Retrospektive aufs Bauhaus eröffnet werden. Es war die fulminante Schau, die knapp 50 Jahre nach Gründung zur Wiederentdeckung des Bauhaus führen sollte. Herbert Bayer hatte dafür ein Plakat gestaltet, das seither zu den am häufigsten gezeigten Bauhaus- Bildern zählt, weil es die oberflächlichsten Symbole der Vereinfachung mit emblematischer Wirkung kombiniert: die Trikolore aus Rot-Gelb-Blau auf den geometrischen Grundformen Quadrat, Kreis und gleichseitiges Dreieck. Heute, wieder 50 Jahre später, wird das Bauhaus vielfach auf dieses visuelle Klischee eingedampft.
Walter Gropius sah sich am 21. April 1968 mit einer ganz anderen Form der stereotypen Vereinfachung konfrontiert: Junge Menschen empörten sich darüber, dass die Schließung der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm unmittelbar bevorstand, während sich Honoratioren aus aller Welt ein Stelldichein zum Gedenken an die kulturellen Leistungen gaben. „beweint das bauhaus und bewahrt die hfg“, in signifikanter Kleinschreibung, zählte zu den harmlosen Parolen auf den Plakaten der Demonstranten. „50 jahre repression weimar dessau berlin ulm“ lässt schon mehr Schärfe im Ton anklingen, der unter dem Eindruck angestimmt wurde, dass sich eine unerträgliche Kontinuität des Nazi-Regimes bis in die Gegenwart erhalten hatte, verkörpert etwa in der Person des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger. Sein Büro befand sich in Rufweite zum Kunstverein.
Gropius griff in den Arkaden des Ausstellungsgebäudes zum Megaphon, sprach zu den versammelten HfG-Angehörigen, Herbert Bayers Werbe-Schriftzug „bauhaus“ schwebte über seinem Kopf. Der Moment, festgehalten von einem Pressefotografen, markierte den Endpunkt einer Etappe in der Beziehung zwischen Bauhaus und HfG, zwischen Weimarer und Bonner Republik, zwischen Kunst und Design. Es war eine spannungsgeladene Beziehung, von Anfang an. Wie in einer Ehe: Die Akteure sind umgeben von einem gemeinsamen Kreis wohlgesinnter Freunde und Förderer, die kaum nachvollziehen können, warum sich die beiden permanent in den Haaren liegen, warum die gegenseitigen Abstoßungskräfte so viel stärker sind als die der Anziehung, da doch von außen das Verbindende so viel deutlicher zutage tritt als das Trennende. Bauhaus und Ulm verbindet manche Gemeinsamkeit.
Grundlegend ist die Erfahrung brutaler Gewalt, die für die Angehörigen beider Institutionen prägend war. In Weimar und Dessau ist es der Erste Weltkrieg. In Ulm sind es die Gewaltherrschaft der Nazis und der Zweite Weltkrieg. Zweimal entfesselter Wahnsinn, dessen Erlebnisse von Intellektuellen und Künstlern verarbeitet werden.
Dann ist da ein einfaches Wort, das Bauhaus und HfG verbindet: Gestaltung. Heute ein geläufiges Wort, aber für die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts handelt es sich um einen Reformbegriff. Es ist ihr verbaler Schlüssel zu einer umfassenden neuen Perspektive auf die Welt. Der Gestalttheorie zufolge nehmen Menschen jegliche „Gestalt“ nicht in einzelnen Aspekten wahr, sondern als Ganzheit und in Wechselwirkung mit der Umgebung. Daraus folgt der berühmte (und oft falsch zitierte) Satz: „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile.“ Und daraus leitet sich der Anspruch ab, dass mit Gestaltung eine ganzheitliche Formgebung unter Berücksichtigung aller Zusammenhänge gemeint ist. Wer nur die äußere Hülle eines Gegenstands konturiert, erzeugt Deformation. Das Bauhaus griff den Gestalt-Begriff auf und führte in Dessau den programmatischen Untertitel „Hochschule für Gestaltung“.
Der Anspruch auf allumfassende Gestaltung verweist zugleich auf den größten Unterschied zwischen Bauhaus und HfG: Wenn Gestaltung bedeutet, dass alle relevanten Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden müssen (weil sie auch alle das Erleben einer Gestalt beeinflussen), dann braucht es eine Instanz, die Prioritäten setzt. Das Bauhaus unter Walter Gropius stand unter dem Paradigma vom Gesamtkunstwerk. Der Architekt Gropius forderte, dass in der Architektur alle künstlerischen Anstrengungen zusammengeführt werden. In seinem Manifest von 1919 verkündete er: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeiten ist der Bau!“ Damit fällt dem Architekten die Rolle der Instanz zu, die dafür zu sorgen hat, dass die Kunst zum Leben wird und das Leben zur Kunst. Das Bauhaus hat sich zum Ziel gesetzt, ein ästhetisches Defizit zu beheben.
Zum gegensätzlichen Schluss gelangte eine Generation später eine kleine Gruppe junger Menschen in Ulm: der Ulmer Kreis, den Inge Scholl und Otl Aicher um sich scharten. Inge Scholl war die älteste Schwester von Hans und Sophie Scholl, den jugendlichen Widerstandskämpfern, die 1943 von den Nazis ermordet worden waren. Ihr Schulfreund Otl Aicher war der Verhaftung und Ermordung nur um Haaresbreite entgangen. Im Frühjahr 1946 nahm Aicher ein Studium der Bildhauerei an der Münchner Kunstakademie auf – und brach es wenig später enttäuscht ab. In der Kunst sah er keine Hilfe, weder für die praktische Bewältigung des Alltags noch für die Vermittlung sittlicher und intellektueller Werte, die für den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Deutschland benötigt wurden, einer demokratischen, friedlichen, emanzipierten Zivilgesellschaft. Welch eine Utopie zu dieser Zeit! Für die neue Gesellschaft suchte er nach neuen Formen. Die zerstörten Städte wollte er nicht einfach rekonstruieren, als ob nichts gewesen wäre. Maßstäbe, die in der Kunst gelten, waren nach Aichers Überzeugung für die neue Gestaltungsaufgabe irrelevant. Er wollte nicht den Alltag zur Kunst erheben. Die gestalterische Qualität von Gebrauchsgegenständen erforderte die Formulierung eigenständiger Kategorien und Kriterien. Das war die eigentliche Geburtsstunde des zeitgenössischen Designs. Das Credo: Kunst ist Kunst, und Design ist etwas anderes.
Dieser Impuls führte zur Gründung der HfG Ulm. Ihr Ziel bestand darin, ein gesellschaftliches Defizit zu beheben. In der HfG blieb die Erinnerung an die Weiße Rose stets präsent: Die einzigen Bilder von Menschen im gesamten Gebäude hingen im Rektorat – zwei kleine Porträts von Hans und Sophie Scholl.
Das Scharnier zwischen Bauhaus und Ulm bildete Max Bill: Schüler des Dessauer Bauhaus, ein eigenwilliger, zupackender Schweizer, der sich in den späten Dreißigern in Zürich einen Ruf als Taktgeber der jungen Riege antifaschistischer Gestalter erwarb. Das Spektrum seines Schaffens umspannte Architektur, Ausstellungen und Schaufenster, Reklame in Zeitungen und auf Plakaten, Schriften und Schriftzüge von Unternehmen, Möbel, Leuchten, Schreibmaschinen und Armbanduhren, Gemälde und Skulpturen, Aufsätze und Reden. Sogar einen bis heute folgenreichen Designpreis initiierte er: Die „Gute Form“ des Schweizerischen Werkbundes. Inge Scholl und Otl Aicher wurden 1946 auf Max Bill aufmerksam. Rasch gelang es, ihn in die Konzeption einzubinden. Noch rascher gelang es ihm, das Ruder zu übernehmen. Vehement sorgte er dafür, dass die diffusen gesellschaftspolitischen Überlegungen in einen konkreten Lehrplan für moderne gestalterische Berufe mündeten.
Die HfG wollte von Anfang an eine Elite von Multiplikatoren ausbilden, die fachliche Qualifikation mit breitem Allgemeinwissen und politischem Verantwortungsbewusstsein auszeichnet: Spezialisten waren für sie Sklaven. Am 3. August 1953 begann der Unterricht der HfG Ulm als erster privater Hochschule der Bundesrepublik. „Bundes- Bauhaus“ wurde sie spöttisch genannt oder „Kloster zum rechten Winkel“. Dabei hätten es sich die Ulmer leicht machen und den Namen „Bauhaus Ulm“ annehmen können. Gropius hatte es Bill angeboten. Aicher lehnte das ab. Dennoch klebte an der HfG von Anfang an das Etikett der Bauhaus-Nachfolge. Bis heute.
Daran sind die Gründer nicht unschuldig, denn um für ihren Plan bei Politik, Wirtschaft und Presse trotz der restaurativen Stimmung Unterstützer zu finden, warben sie damit, dass sie an der Stelle weitermachen wollten, wo das Bauhaus stünde, wenn es 1933 nicht geschlossen worden wäre.
Max Bills internationales Prestige zog Studenten und Dozenten an, nicht nur aus Deutschland und der Schweiz, auch aus Südamerika und den Vereinigten Staaten. Den ersten Grundkursus unterrichtete Walter Peterhans, der am Bauhaus die Fotografie-Werkstatt aufgebaut hatte. Es erschien gleich zweimal Josef Albers, der Bauhaus-Meister. Auch Johannes Itten, Albers’ Vorgänger am Bauhaus, unterrichtete für eine Woche in Ulm. Helene Nonné-Schmidt vermittelte die Lehre des Bauhaus-Typografen Joost Schmidt. Mies van der Rohe streifte über die Baustelle des Hochschulgebäudes, das nach den Plänen Max Bills von 1953 bis 1955 entstand – zu den Kosten eines gehobenen Einfamilienhauses, wie Bill hervorhob, was nicht nur ein Licht auf die minimale Unterstützung in Deutschland wirft, sondern auch auf den gehobenen Anspruch des Zürchers.
Gropius eröffnete die HfG-Gebäude am 1. und 2. Oktober in einer Feierstunde, an der bloß die zweite und dritte Riege politischer und gesellschaftlicher Prominenz teilnahmen. Was in Ulm geschah, war konservativen Kreisen suspekt (und zwar bis zur Schließung 1968). Gropius beschwor geradezu die versammelte Avantgarde, besonders die Ulmer Studenten, das Magische nicht aus der Kultur auszuklammern. Doch er stieß auf taube Ohren. Das Magische galt ihnen nicht nur als das Obskure, es stand auch in Verdacht, für die Überhöhung von Macht und Gewalt instrumentalisiert zu werden, so geschehen in Nazi-Deutschland.
Kurz nach der Eröffnung trennten sich die Ulmer von Max Bill in einem lauten und hässlichen Streit, der großen Schaden anrichtete. Von Bill blieb das Gebäude, einschließlich seiner eingekratzten Signatur in der Betonwand der Eingangshalle, die bis heute sichtbar ist.
Von 1957 an lautete die HfG-Parole: Verwissenschaftlichung der Gestaltung. Schärfer, unerbittlicher und radikaler als in Ulm erhob noch keine Designhochschule die nüchterne Vernunft, das sachliche Argument, die rationale Kritik zum Fixstern des Denkens, Redens und Handelns. Das romantische Ideal des Künstler- Genies wurde ersetzt durch den wissenschaftlich trainierten prozessorientierten Teamplayer. Künstlerische Grundlagen wie aus der Bauhaus-Grundlehre wurden von Tomás Maldonado schrittweise verändert und schließlich abgeschafft. Als junger argentinischer Maler hatte er noch eine Monografie über Bill veröffentlicht. 1954 trat er, kaum des Deutschen mächtig, in den Lehrkörper ein. Nach der Trennung von Bill übernahm er mit Aicher die Führung der HfG – und veröffentlichte Aufsätze zur Theorie des Designs, in denen er die Unterschiede zum Bauhaus immer wieder hervorhob.
In den folgenden zehn Jahren entstanden in der HfG die Entwürfe, die den Ulmer Ruf und Rang begründen: Systeme für die Gestaltung von Gerätschaften und Botschaften, visuelle Erscheinungsbilder, Konzepte für öffentliche Transportmittel, Methoden der Designlehre und der Designpraxis. Ulmer Absolventen verbreiteten das Gedankengut auf der ganzen Welt in Hochschulen und Unternehmen. Selbst das gegenwärtige Design von Apple lässt sich über die Brücke von Dieter Rams auf Hans Gugelots Arbeiten zurückführen.
Von 1965 an setzte sich eine Dynamik in Gang, die im Dezember 1968 zur Einstellung des Lehrbetriebs führte. Sie war unter anderem auf mangelhafte Verwaltung, Rückzug wichtiger Unterstützer, schlechte Presse und unversöhnliche Gegensätze in der HfG zurückzuführen. Die komplexe Wirklichkeit ist weit weg von der schlichten Erzählung, die böse Politik habe die HfG geschlossen. Doch diese Geschichte klingt einfach zu verführerisch, erst recht in Form all der Parolen, die Walter Gropius im April 1968 vor die Nase gehalten wurden – magische Formeln für den Mythos HfG Ulm.
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181027_Designgeschichte_ReneSpitz_FAZ-MagazinNr71_HfGUlm
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