Manche suchen das Glück auf dem Rücken der Pferde, andere im Lammrücken. Die zentrale Pflicht im Leben aller modernen Menschen besteht darin, ihr Glück zu suchen, zu finden und aktiv zu gestalten – jetzt auch an der Herdplatte, meint René Spitz. Veröffentlichung als Kolumne »Spot on Design« in md 9/2019.
Die Abbildung stammt von Geert Spekken, der sein wunderbares künstlerisches Projekt zur Dekonstruktion der Alltagsgegenstände veröffentlicht: https://www.deconstructionart.com/
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Wenn Golf der Sex des Alters ist, dann ist wohl Kochen der Sex derer zwischen 40 und 60. Klingt wie eine gehässige Bemerkung vom Spielfeldrand der U40. Ist aber die Erkenntnis gegenwärtiger Ernährungssoziologen und -psychologen. Zustimmung? Hängt von der persönlichen Lesart und Betroffenheit ab. Klingt nach einer inspirierenden Steilvorlage fürs Abendessen im Freundeskreis: Akzeptanz als wissenschaftliche Erkenntnis zum Aperitif, Zurückweisung als unhaltbare These beim Hauptgang und wüstes Beschimpfen als unverschämte Verunglimpfung zum Dessert.
Die Pointe der Forscher, die man sich abschließend auf der Zunge zergehen lassen sollte: Die sexuelle Revolution der 68er hat sämtliche Tabus beim einvernehmlichen Geschlechtsverkehr beiseite gefegt. Diese Freiheiten liegen seither als selbstverständliches Repertoire parat wie Besteck in der Schublade. Welche persönliche Bühne bleibt da noch, um unsere Individualität durch Abgrenzung von den anderen Individuen sichtbar zu machen? Nur noch »das Rohe und das Gekochte« (Lévi-Strauss), das Essen als letzte alltägliche Praxis zwischen Privatheit und Intimität. Der moderne Mensch ist nicht mehr, weil er denkt. Er ist nicht mehr, wie er liebt. Er ist, was er isst. Intellektuell ist das ziemlich hartes Brot. Der schale Kalauer funktioniert auch nur im Deutschen wegen eines klitzekleinen s.
Essen ist längst Trend. Deshalb ist es allein mit Kochen nicht mehr getan. Da lockt einfach zu viel Distinktionspotenzial. Der industriell-ernährungskommerzielle Komplex aus Zutaten und Zubereitung ist durchgestylt, weil er sich nach außen wendet. Alle sollen wissen, wie wir zum Essen stehen (»Wer zweimal ins gleiche Lokal rennt, gehört zum Establishment«). Essen ist heute ein Politikum.
Essen ist jetzt Food, und Food ist dem Design zum Opfer gefallen. Auch sprachlich. Vielleicht sogar vor allem sprachlich. Denn oberflächlich aus dem Englischen übernommenen Begriffe fehlt es vor allem an Schärfe. Und doch, das muss man dem Superfood und Whey und Porridge lassen: Das klingt so wunderbar trendy und fancy, das nehmen wir gerne in den Mund. Englische Termini wirken wie Zuckerwatte: Sie bereiten spontan Vergnügen, wenn wir in der Gruppe draußen unterwegs sind (kein Mensch würde für sich allein zuhause Zuckerwatte machen), und zugleich sind die einzelnen Fäden arg verworren. Auch wenn es sich am Ende nur um eine aufgeblasene Klebrigkeit handelt: Wir fühlen uns damit »supergeil«, um eine Handelskette zu zitieren, die von sich behauptet, dass sie Lebensmittel liebt.
Als in den 1980ern die Vokabeln Food Design oder Body Design in die Designtheorie sickerten, klang das noch wie wirres Gefasel. Aber damals beherrschte auch noch das Maggi-Kochstudio den Ernährungsdiskurs in den drei öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen. Heute füttern Posts unter dem Hashtag Soulfood die Feeds der Social Media. Das kann nicht einfach nur Essen sein. Sondern es muss beseeltes Essen sein. Wenn es nicht beseelt ist, ist es seelenlos. Lieblos. Wertlos. – Das simple Rezept: Klatscht man eine Vokabel vor »Food«, dann wird es ein neuer Trend. Freuen wir uns schon auf Value Food, Culture Food und Social Food. Dieses verbale Filetieren kennen wir aus dem Design. Da gibt es Functional, Integrated und Social Design – als ob gelungenes Design nicht auch immer gleichzeitig funktionstüchtig, integrierend und gesellschaftlich verantwortlich wäre. Ich warte nur noch auf »ästhetisches Design«.
Soulfood heißt schlicht, was schmeckt und glücklich macht. Das gute Bauchgefühl, jetzt auch für die Seele. Ekstase durch Estragon. Schatz, wir müssen reden: Lass uns mal wieder Essen machen.
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Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Spot on Design: Trend essen Seele auf
Manche suchen das Glück auf dem Rücken der Pferde, andere im Lammrücken. Die zentrale Pflicht im Leben aller modernen Menschen besteht darin, ihr Glück zu suchen, zu finden und aktiv zu gestalten – jetzt auch an der Herdplatte, meint René Spitz. Veröffentlichung als Kolumne »Spot on Design« in md 9/2019.
Die Abbildung stammt von Geert Spekken, der sein wunderbares künstlerisches Projekt zur Dekonstruktion der Alltagsgegenstände veröffentlicht: https://www.deconstructionart.com/
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Wenn Golf der Sex des Alters ist, dann ist wohl Kochen der Sex derer zwischen 40 und 60. Klingt wie eine gehässige Bemerkung vom Spielfeldrand der U40. Ist aber die Erkenntnis gegenwärtiger Ernährungssoziologen und -psychologen. Zustimmung? Hängt von der persönlichen Lesart und Betroffenheit ab. Klingt nach einer inspirierenden Steilvorlage fürs Abendessen im Freundeskreis: Akzeptanz als wissenschaftliche Erkenntnis zum Aperitif, Zurückweisung als unhaltbare These beim Hauptgang und wüstes Beschimpfen als unverschämte Verunglimpfung zum Dessert.
Die Pointe der Forscher, die man sich abschließend auf der Zunge zergehen lassen sollte: Die sexuelle Revolution der 68er hat sämtliche Tabus beim einvernehmlichen Geschlechtsverkehr beiseite gefegt. Diese Freiheiten liegen seither als selbstverständliches Repertoire parat wie Besteck in der Schublade. Welche persönliche Bühne bleibt da noch, um unsere Individualität durch Abgrenzung von den anderen Individuen sichtbar zu machen? Nur noch »das Rohe und das Gekochte« (Lévi-Strauss), das Essen als letzte alltägliche Praxis zwischen Privatheit und Intimität. Der moderne Mensch ist nicht mehr, weil er denkt. Er ist nicht mehr, wie er liebt. Er ist, was er isst. Intellektuell ist das ziemlich hartes Brot. Der schale Kalauer funktioniert auch nur im Deutschen wegen eines klitzekleinen s.
Essen ist längst Trend. Deshalb ist es allein mit Kochen nicht mehr getan. Da lockt einfach zu viel Distinktionspotenzial. Der industriell-ernährungskommerzielle Komplex aus Zutaten und Zubereitung ist durchgestylt, weil er sich nach außen wendet. Alle sollen wissen, wie wir zum Essen stehen (»Wer zweimal ins gleiche Lokal rennt, gehört zum Establishment«). Essen ist heute ein Politikum.
Essen ist jetzt Food, und Food ist dem Design zum Opfer gefallen. Auch sprachlich. Vielleicht sogar vor allem sprachlich. Denn oberflächlich aus dem Englischen übernommenen Begriffe fehlt es vor allem an Schärfe. Und doch, das muss man dem Superfood und Whey und Porridge lassen: Das klingt so wunderbar trendy und fancy, das nehmen wir gerne in den Mund. Englische Termini wirken wie Zuckerwatte: Sie bereiten spontan Vergnügen, wenn wir in der Gruppe draußen unterwegs sind (kein Mensch würde für sich allein zuhause Zuckerwatte machen), und zugleich sind die einzelnen Fäden arg verworren. Auch wenn es sich am Ende nur um eine aufgeblasene Klebrigkeit handelt: Wir fühlen uns damit »supergeil«, um eine Handelskette zu zitieren, die von sich behauptet, dass sie Lebensmittel liebt.
Als in den 1980ern die Vokabeln Food Design oder Body Design in die Designtheorie sickerten, klang das noch wie wirres Gefasel. Aber damals beherrschte auch noch das Maggi-Kochstudio den Ernährungsdiskurs in den drei öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen. Heute füttern Posts unter dem Hashtag Soulfood die Feeds der Social Media. Das kann nicht einfach nur Essen sein. Sondern es muss beseeltes Essen sein. Wenn es nicht beseelt ist, ist es seelenlos. Lieblos. Wertlos. – Das simple Rezept: Klatscht man eine Vokabel vor »Food«, dann wird es ein neuer Trend. Freuen wir uns schon auf Value Food, Culture Food und Social Food. Dieses verbale Filetieren kennen wir aus dem Design. Da gibt es Functional, Integrated und Social Design – als ob gelungenes Design nicht auch immer gleichzeitig funktionstüchtig, integrierend und gesellschaftlich verantwortlich wäre. Ich warte nur noch auf »ästhetisches Design«.
Soulfood heißt schlicht, was schmeckt und glücklich macht. Das gute Bauchgefühl, jetzt auch für die Seele. Ekstase durch Estragon. Schatz, wir müssen reden: Lass uns mal wieder Essen machen.
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