Der Umgang mit der Pandemie hat neue Erscheinungen hervorgebracht, neue Verhaltensweisen und neue Erfahrungen. Das Neue wird mit neuen Begriffen in Worte gefasst, von Aha-Regel über Lockdown bis Zoom. Dass die Digitalisierung des gemeinschaftlichen Arbeitens bei kreativen Tätigkeiten vielfach als schleichendes Gift wirkt, kommentiert René Spitz. Veröffentlichung als Kolumne »Spot on Design« in md 1/2021.
Die Abbildung stammt von Geert Spekken, der sein wunderbares künstlerisches Projekt zur Dekonstruktion der Alltagsgegenstände veröffentlicht: https://www.deconstructionart.com/
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Selten so viel gelernt wie 2020. Über Gespräche von Mensch zu Mensch im Angesicht der Maske. Über den Austausch von Gedanken in Videokonferenzen. Und darüber, dass Videokonferenzen sich für den Austausch von Gedanken kaum eignen. Was aber den technischen Rahmenbedingungen geschuldet ist und nicht den Gesprächspartnern. Aber dazu später mehr.
Der aktive Wortschatz ist auch gewachsen. »Breakout Session« nennt sich der kleine regulierte Ausbruch aus dem Gefangensein in der großen Bildschirmgruppe. »Zoom fatigue« beschreibt die ausgelaugte Ermattung nach unzähligen Wochen des virtuellen »Desktop Sharing«.
Besonderen Charme verströmt »Laundry test«. Ein Begriff, der in Harvard geprägt wurde und sich so rasch verbreitet hat, dass keine Zeit für seine Übersetzung geblieben ist. Damit wird kein Test benannt, dem die (gewaschene) Wäsche unterzogen wird. Vielmehr ist Bügelwäsche, die erledigt werden muss, selbst das Testinstrument. Hier die Versuchsanordnung. Schritt 1: Platzieren Sie Bügeleisen, Bügelbrett und den Korb voller Wäsche. Schritt 2: Starten Sie Ihr digitales Endgerät (Laptop, Tablet, Smartphone) und nehmen Sie an ihrer Videokonferenz (Zoom, Teams, Skype etc.) teil. Vorzugsweise stellen Sie Ihr Mikrofon stumm (neues deutsches Zeitwort: jemanden oder sich selbst »muten«). Und wenn Sie schon mal dabei sind, können Sie auch direkt Ihre Kamera ausschalten. Schritt 3: Bügeln Sie. Das war der Test.
Wer oder was dabei getestet wird? Die Person, die die Videokonferenz einberufen und durchgeführt hat. Denn wenn es Ihnen gelungen ist, Ihre Hausarbeit entspannt abzuhaken und Sie gleichzeitig nichts in der Konferenz verpasst haben, dann ist die Konferenz durchgefallen (bzw. die oder der Verantwortliche). Dann hat sich Ihre Teilnahme nicht gelohnt. Dann hat sich die Teilnahme für niemanden gelohnt. Dann war es eine unverantwortliche Vergeudung von Zeit und Energie. Und dann hat jemand die spezifischen Qualitäten und Erfordernisse von Gruppenterminen mit digitalen Medien nicht verstanden. Der Begriff stammt übrigens von einer Studentin, die von einem Professor gefragt wurde, wann sich aus ihrer Erfahrung die Teilnahme an einer Online-Vorlesung lohnt.
Mittlerweile mussten viel zu viele Menschen an ihrem heimischen Küchentisch Bildschirmtermine über sich ergehen lassen, die wohlwollend als ärgerliche Belästigung, nüchtern als unprofessionelle Zumutung zu bewerten sind. Darum hat sich Zoom fatigue breitgemacht, die Stimmung resignierter Ermüdung, hervorgerufen durch einen Mangel an Bügelwäsche für den Arbeitstag. Von »Purpose« (wer erinnert sich noch an DAS Buzzword des letzten Jahres?), Befriedigung und Erfüllung ganz zu schweigen.
Der Ausweg ist aber auch nur ein scheinbarer, denn selbst die temporäre Flucht aus dem Gefängnis der Videokonferenz-Plattformen ist längst in ihr gesamtes System integriert. Nennt sich Breakout-Session: Eine kleine Gruppe unternimmt einen regulierten und kontrollierten Ausbruch aus dem Monolog der Bildschirm-Briefmarken und diskutiert in kleiner Runde das aktuelle Thema. Alcatraz light, oder: Jetzt sind wir alle für ein paar Minuten spontan!
Wir müssen den widrigen Umständen dankbar sein, dass aus ihnen eine zentrale Erkenntnis hervorgetreten ist: Die wesentlichen Qualitäten von Teamarbeit in gestalterischen Berufen lassen sich nicht digitalisieren. Denn das Wesen der Gestaltungspraxis besteht darin, dass viele Beteiligte etwas Neues entwickeln. Und dafür ist der persönliche Austausch von Mensch zu Mensch grundlegend. Physische Präsenz fördert gegenseitige Inspiration. Sie entsteht aus informellen, nonverbalen Anteilen der Kommunikation. Ambiguität provoziert Gedankensprünge und Querdenken. Der Bildschirm entfernt aber das Nicht-Binäre, das Dazwischen und das Periphere. Anders gewendet: Wenn es darum geht, Zahlenwerk wie eine Preisliste oder einen Terminplan zu besprechen, sind Videokonferenz wunderbar effizient. Bei alle anderen Aufgaben wirkt die Digitalisierung als Gift auf genau das, worum es im Kern geht: Lebendige Vielfalt und sprühenden Ideenreichtum.
Die Quintessenz: 2021 wird das Jahr, in dem wir die bereichernde Energie des zwischenmenschlichen Austauschs feiern werden. Bildschirme aus, Kreativität an.
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Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Spot on Design: digital detox
Der Umgang mit der Pandemie hat neue Erscheinungen hervorgebracht, neue Verhaltensweisen und neue Erfahrungen. Das Neue wird mit neuen Begriffen in Worte gefasst, von Aha-Regel über Lockdown bis Zoom. Dass die Digitalisierung des gemeinschaftlichen Arbeitens bei kreativen Tätigkeiten vielfach als schleichendes Gift wirkt, kommentiert René Spitz. Veröffentlichung als Kolumne »Spot on Design« in md 1/2021.
Die Abbildung stammt von Geert Spekken, der sein wunderbares künstlerisches Projekt zur Dekonstruktion der Alltagsgegenstände veröffentlicht: https://www.deconstructionart.com/
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Selten so viel gelernt wie 2020. Über Gespräche von Mensch zu Mensch im Angesicht der Maske. Über den Austausch von Gedanken in Videokonferenzen. Und darüber, dass Videokonferenzen sich für den Austausch von Gedanken kaum eignen. Was aber den technischen Rahmenbedingungen geschuldet ist und nicht den Gesprächspartnern. Aber dazu später mehr.
Der aktive Wortschatz ist auch gewachsen. »Breakout Session« nennt sich der kleine regulierte Ausbruch aus dem Gefangensein in der großen Bildschirmgruppe. »Zoom fatigue« beschreibt die ausgelaugte Ermattung nach unzähligen Wochen des virtuellen »Desktop Sharing«.
Besonderen Charme verströmt »Laundry test«. Ein Begriff, der in Harvard geprägt wurde und sich so rasch verbreitet hat, dass keine Zeit für seine Übersetzung geblieben ist. Damit wird kein Test benannt, dem die (gewaschene) Wäsche unterzogen wird. Vielmehr ist Bügelwäsche, die erledigt werden muss, selbst das Testinstrument. Hier die Versuchsanordnung. Schritt 1: Platzieren Sie Bügeleisen, Bügelbrett und den Korb voller Wäsche. Schritt 2: Starten Sie Ihr digitales Endgerät (Laptop, Tablet, Smartphone) und nehmen Sie an ihrer Videokonferenz (Zoom, Teams, Skype etc.) teil. Vorzugsweise stellen Sie Ihr Mikrofon stumm (neues deutsches Zeitwort: jemanden oder sich selbst »muten«). Und wenn Sie schon mal dabei sind, können Sie auch direkt Ihre Kamera ausschalten. Schritt 3: Bügeln Sie. Das war der Test.
Wer oder was dabei getestet wird? Die Person, die die Videokonferenz einberufen und durchgeführt hat. Denn wenn es Ihnen gelungen ist, Ihre Hausarbeit entspannt abzuhaken und Sie gleichzeitig nichts in der Konferenz verpasst haben, dann ist die Konferenz durchgefallen (bzw. die oder der Verantwortliche). Dann hat sich Ihre Teilnahme nicht gelohnt. Dann hat sich die Teilnahme für niemanden gelohnt. Dann war es eine unverantwortliche Vergeudung von Zeit und Energie. Und dann hat jemand die spezifischen Qualitäten und Erfordernisse von Gruppenterminen mit digitalen Medien nicht verstanden. Der Begriff stammt übrigens von einer Studentin, die von einem Professor gefragt wurde, wann sich aus ihrer Erfahrung die Teilnahme an einer Online-Vorlesung lohnt.
Mittlerweile mussten viel zu viele Menschen an ihrem heimischen Küchentisch Bildschirmtermine über sich ergehen lassen, die wohlwollend als ärgerliche Belästigung, nüchtern als unprofessionelle Zumutung zu bewerten sind. Darum hat sich Zoom fatigue breitgemacht, die Stimmung resignierter Ermüdung, hervorgerufen durch einen Mangel an Bügelwäsche für den Arbeitstag. Von »Purpose« (wer erinnert sich noch an DAS Buzzword des letzten Jahres?), Befriedigung und Erfüllung ganz zu schweigen.
Der Ausweg ist aber auch nur ein scheinbarer, denn selbst die temporäre Flucht aus dem Gefängnis der Videokonferenz-Plattformen ist längst in ihr gesamtes System integriert. Nennt sich Breakout-Session: Eine kleine Gruppe unternimmt einen regulierten und kontrollierten Ausbruch aus dem Monolog der Bildschirm-Briefmarken und diskutiert in kleiner Runde das aktuelle Thema. Alcatraz light, oder: Jetzt sind wir alle für ein paar Minuten spontan!
Wir müssen den widrigen Umständen dankbar sein, dass aus ihnen eine zentrale Erkenntnis hervorgetreten ist: Die wesentlichen Qualitäten von Teamarbeit in gestalterischen Berufen lassen sich nicht digitalisieren. Denn das Wesen der Gestaltungspraxis besteht darin, dass viele Beteiligte etwas Neues entwickeln. Und dafür ist der persönliche Austausch von Mensch zu Mensch grundlegend. Physische Präsenz fördert gegenseitige Inspiration. Sie entsteht aus informellen, nonverbalen Anteilen der Kommunikation. Ambiguität provoziert Gedankensprünge und Querdenken. Der Bildschirm entfernt aber das Nicht-Binäre, das Dazwischen und das Periphere. Anders gewendet: Wenn es darum geht, Zahlenwerk wie eine Preisliste oder einen Terminplan zu besprechen, sind Videokonferenz wunderbar effizient. Bei alle anderen Aufgaben wirkt die Digitalisierung als Gift auf genau das, worum es im Kern geht: Lebendige Vielfalt und sprühenden Ideenreichtum.
Die Quintessenz: 2021 wird das Jahr, in dem wir die bereichernde Energie des zwischenmenschlichen Austauschs feiern werden. Bildschirme aus, Kreativität an.
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Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.