Die Versetzung ist gefährdet: Um die Schulen in die Gegenwart zu befördern, damit sie für die Zukunft ausbilden können, müssen jetzt die Hausaufgaben gemacht werden. Kreative Freiräume für zeitgemäßes Lehren und Lernen erfordern eine neue Vorstellung von unserer digitalen Wirklichkeit, kommentiert René Spitz.Veröffentlichung als Kolumne »Spot on Design« in md 7/2021.
Die Abbildung stammt von Geert Spekken, der sein wunderbares künstlerisches Projekt zur Dekonstruktion der Alltagsgegenstände veröffentlicht: https://www.deconstructionart.com/
+++
Die letzte Bildungskatastrophe liegt nun bereits ein paar Jahre zurück. Da war eine neue längst überfällig.
Beim vorigen Mal, in den 1960er Jahren, wurde die Situation als Katastrophe diagnostiziert, weil das gesamte Bildungssystem – von der Struktur über den Inhalt der Schulbücher und die didaktischen Methoden bis zu den Gebäuden – der Wirklichkeit hinterherhinkte. Dieses Mal fällt die Diagnose genauso aus. Ist doch erstaunlich: Hat sich etwa die Gesellschaft schon wieder geändert?
Die Normen, Ideale und Ziele, Erwartungen und Verhalten sind heute zwar vielfach anders als vor einer Generation, aber das Bildungssystem hat damit nicht Schritt gehalten. Die treibende Kraft heißt diesmal Digitalisierung. Davon war beim letzten Mal noch keine Rede, da waren die Rechner noch so groß wie Turnhallen. Und die aktuelle Pandemie hat die Misere zutage treten lassen: Setzen, fünf.
Die grundlegenden Fragen sind unverändert: Auf welche Zukunft sollen die Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden? Was müssen sie dafür wissen und können? Und welche Formen erscheinen uns dafür als geeignete Mittel, wie gestalten wir also für unseren Nachwuchs die Räume, Stunden und Prüfungen? Hefte raus, Klassenarbeit – oder: iPad an, eine PowerPoint auf Teams sharen?
Allerdings könnten wir mittlerweile auch gelernt haben, dass die große Fortschrittsutopie der Moderne eine Rechnung war, die nicht aufgegangen ist. Denn die Wirklichkeit verändert sich so schnell, dass lineare Pläne für ihre Bewältigung veraltet sind, noch bevor der Overhead-Projektor sie an die Wand geworfen hat.
Unsere digitale Wirklichkeit ist so VUCA: So unbeständig, ungewiss, komplex und vieldeutig. Worauf kommt es also an, um angesichts der Unsicherheiten, Ungenauigkeiten und Unwägbarkeiten im globalen Wettbewerb zu bestehen und zugleich die Klimakatastrophe abzuwenden? Der freitägliche Schulstreik macht auch auf diese Bruchstelle im Bildungssystem aufmerksam.
Dabei mangelt es nicht an Anregungen, um einen grundsätzlichen Wandel zu realisieren: Vorbildliche pädagogische Konzepte und Schulbauten sind so bekannt, dass sie längst als Gegenstand für den Pädagogik-Unterricht in den Schulen ausgewählt wurden. Allein, dass fortschrittliche Didaktik im Einzelfall erfolgreich mit Leben erfüllt und zeitgemäße Architektur gebaut wird, ist eben die Ausnahme und nicht die Regel – gewiss aber ein Beweis für die Richtigkeit des Peter-Prinzips.
Möglicherweise sind wir meist davon überfordert, uns diese unscharfe Zukunft vorzustellen, die dann plötzlich ganz konkret vor uns steht und deren Gewalt uns so überwältigt, dass wir uns angesichts unserer Naivität und Unbeholfenheit ertappt fühlen wie dumme Schuljungen.
Aktuelle Befragungen lehren uns, was fehlt, um Schule gelingen zu lassen: WLAN. Von Stabilität, Bandbreite und Flächendeckung ganz zu schweigen. Dann technische und methodische Schulungen für das Kollegium. Zudem flexible Räume, die sich nicht nur situativ anpassen, sondern auch lüften (und vielleicht sogar trotzdem heizen) lassen. Wenn es eine Maslow’sche Bedürfnispyramide für das Bildungssystem gäbe, wären wir momentan auf der primären Ebene: Existenzsicherung. Ansprüche an die technische und räumliche Ausrüstung von Lernenden (home schooling) und Lehrenden (home office) erscheinen in weiter Ferne auf der höchsten Ebene der Selbstverwirklichung.
Dabei ist es ganz einfach. Unsere neue digitale Wirklichkeit ist wie Pippi Langstrumpf: sprunghaft, unberechenbar, einfallsreich und unbezwingbar. Und nein, wir sind weder ihre Freunde Tommy oder Annika. Wir sind leider deren spießige, engstirnige und verkrampfte Eltern, die die neue Wirklichkeit ablehnen, ihre Wirkmächtigkeit nicht anerkennen und sich stur an alten Gewohnheiten festklammern.
Die Geschichten von Pippi Langstrumpf lassen sich als klassische Entwicklungsromane lesen. Bitte nicht davon irritieren lassen, dass Pippi Langstrumpf sich vermeintlich nicht entwickelt. Sie sorgt als Katalysator dafür, dass sich ihre Umwelt entwickelt. Dabei erzeugt sie bei denen, die sie akzeptieren, Vergnügen, Unterhaltung und Lebensfreude. Nur: Pippi Langstrumpf segelt heute nicht mehr ins Taka-Tuka-Land, sie hat einen Account auf Tik Tok.
Wenn wir etwas von den kalifornischen Akteuren der Digitalisierung gelernt haben, dann doch die Erkenntnis, dass Pippi Langstrumpfs Lebensmotto Wirklichkeit geworden ist: Ich mache mir die Welt, wie es mir gefällt.
+++
Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Spot on design: Im Taka-Tuka-Bildungsland
Die Versetzung ist gefährdet: Um die Schulen in die Gegenwart zu befördern, damit sie für die Zukunft ausbilden können, müssen jetzt die Hausaufgaben gemacht werden. Kreative Freiräume für zeitgemäßes Lehren und Lernen erfordern eine neue Vorstellung von unserer digitalen Wirklichkeit, kommentiert René Spitz.Veröffentlichung als Kolumne »Spot on Design« in md 7/2021.
Die Abbildung stammt von Geert Spekken, der sein wunderbares künstlerisches Projekt zur Dekonstruktion der Alltagsgegenstände veröffentlicht: https://www.deconstructionart.com/
+++
Die letzte Bildungskatastrophe liegt nun bereits ein paar Jahre zurück. Da war eine neue längst überfällig.
Beim vorigen Mal, in den 1960er Jahren, wurde die Situation als Katastrophe diagnostiziert, weil das gesamte Bildungssystem – von der Struktur über den Inhalt der Schulbücher und die didaktischen Methoden bis zu den Gebäuden – der Wirklichkeit hinterherhinkte. Dieses Mal fällt die Diagnose genauso aus. Ist doch erstaunlich: Hat sich etwa die Gesellschaft schon wieder geändert?
Die Normen, Ideale und Ziele, Erwartungen und Verhalten sind heute zwar vielfach anders als vor einer Generation, aber das Bildungssystem hat damit nicht Schritt gehalten. Die treibende Kraft heißt diesmal Digitalisierung. Davon war beim letzten Mal noch keine Rede, da waren die Rechner noch so groß wie Turnhallen. Und die aktuelle Pandemie hat die Misere zutage treten lassen: Setzen, fünf.
Die grundlegenden Fragen sind unverändert: Auf welche Zukunft sollen die Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden? Was müssen sie dafür wissen und können? Und welche Formen erscheinen uns dafür als geeignete Mittel, wie gestalten wir also für unseren Nachwuchs die Räume, Stunden und Prüfungen? Hefte raus, Klassenarbeit – oder: iPad an, eine PowerPoint auf Teams sharen?
Allerdings könnten wir mittlerweile auch gelernt haben, dass die große Fortschrittsutopie der Moderne eine Rechnung war, die nicht aufgegangen ist. Denn die Wirklichkeit verändert sich so schnell, dass lineare Pläne für ihre Bewältigung veraltet sind, noch bevor der Overhead-Projektor sie an die Wand geworfen hat.
Unsere digitale Wirklichkeit ist so VUCA: So unbeständig, ungewiss, komplex und vieldeutig. Worauf kommt es also an, um angesichts der Unsicherheiten, Ungenauigkeiten und Unwägbarkeiten im globalen Wettbewerb zu bestehen und zugleich die Klimakatastrophe abzuwenden? Der freitägliche Schulstreik macht auch auf diese Bruchstelle im Bildungssystem aufmerksam.
Dabei mangelt es nicht an Anregungen, um einen grundsätzlichen Wandel zu realisieren: Vorbildliche pädagogische Konzepte und Schulbauten sind so bekannt, dass sie längst als Gegenstand für den Pädagogik-Unterricht in den Schulen ausgewählt wurden. Allein, dass fortschrittliche Didaktik im Einzelfall erfolgreich mit Leben erfüllt und zeitgemäße Architektur gebaut wird, ist eben die Ausnahme und nicht die Regel – gewiss aber ein Beweis für die Richtigkeit des Peter-Prinzips.
Möglicherweise sind wir meist davon überfordert, uns diese unscharfe Zukunft vorzustellen, die dann plötzlich ganz konkret vor uns steht und deren Gewalt uns so überwältigt, dass wir uns angesichts unserer Naivität und Unbeholfenheit ertappt fühlen wie dumme Schuljungen.
Aktuelle Befragungen lehren uns, was fehlt, um Schule gelingen zu lassen: WLAN. Von Stabilität, Bandbreite und Flächendeckung ganz zu schweigen. Dann technische und methodische Schulungen für das Kollegium. Zudem flexible Räume, die sich nicht nur situativ anpassen, sondern auch lüften (und vielleicht sogar trotzdem heizen) lassen. Wenn es eine Maslow’sche Bedürfnispyramide für das Bildungssystem gäbe, wären wir momentan auf der primären Ebene: Existenzsicherung. Ansprüche an die technische und räumliche Ausrüstung von Lernenden (home schooling) und Lehrenden (home office) erscheinen in weiter Ferne auf der höchsten Ebene der Selbstverwirklichung.
Dabei ist es ganz einfach. Unsere neue digitale Wirklichkeit ist wie Pippi Langstrumpf: sprunghaft, unberechenbar, einfallsreich und unbezwingbar. Und nein, wir sind weder ihre Freunde Tommy oder Annika. Wir sind leider deren spießige, engstirnige und verkrampfte Eltern, die die neue Wirklichkeit ablehnen, ihre Wirkmächtigkeit nicht anerkennen und sich stur an alten Gewohnheiten festklammern.
Die Geschichten von Pippi Langstrumpf lassen sich als klassische Entwicklungsromane lesen. Bitte nicht davon irritieren lassen, dass Pippi Langstrumpf sich vermeintlich nicht entwickelt. Sie sorgt als Katalysator dafür, dass sich ihre Umwelt entwickelt. Dabei erzeugt sie bei denen, die sie akzeptieren, Vergnügen, Unterhaltung und Lebensfreude. Nur: Pippi Langstrumpf segelt heute nicht mehr ins Taka-Tuka-Land, sie hat einen Account auf Tik Tok.
Wenn wir etwas von den kalifornischen Akteuren der Digitalisierung gelernt haben, dann doch die Erkenntnis, dass Pippi Langstrumpfs Lebensmotto Wirklichkeit geworden ist: Ich mache mir die Welt, wie es mir gefällt.
+++
Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.