In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen. Die Berichte darüber im Fernsehen, in den Zeitungen und in den Online-Medien zeigen stets die gleichen Bilder. Jüngst das Chaos am Flughafen in Kabul. Davor Bilder von bärtigen Männern mit Turban, die in Gruppen auf dem Boden kauern. Kontrastierend dazu Bilder einzelner Frauen. Und immer wieder: Ein bestimmter Typ Geländewagen, der übers Land braust.
Bei diesem Geländewagen handelt es sich nicht um ein Militärfahrzeug im engeren Sinne: Es ist nicht der sogenannte Hummer, jener überbreite und flach gebaute, sandfarben lackierte Kampfwagen der US-Armee, der im irakischen Golfkrieg so berühmt-berüchtigt wurde, dass sich Arnold Schwarzenegger ein Exemplar für seinen privaten Fuhrpark zulegte. In der Folge tauchte dieser Hummer in einer entmilitarisierten, aber immer noch unzivilen Version auch auf deutschen Straßen auf. An der Ampel wirkte er als Symbol hormon- und geldprotzender Männlichkeit im Nahkampf um die Aufmerksamkeit des urbanen Publikums.
Nein, die Bilder der gegenwärtigen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zeigen immer wieder ein anderes Fahrzeug: den Pickup namens Hilux von Toyota. Ein allrad-getriebendes Auto, das schon seit Jahrzehnten weltweit als vielseitig und genügsam geschätzt wird. Seine Achsen sind so hoch gebaut, dass der Wagen in jedem Gelände voran kommt – ein erheblicher Vorteil auf unbefestigten Pisten und im Gebirge. Die rückwärtige Ladefläche ist so groß, dass sie einem Dutzend Personen ebenso Platz bietet wie einem darauf montierten Maschinengewehr. Legendär ist die Robustheit des Pickup: Vor Jahren wurde in einem millionenfach geteilten Film gezeigt, dass der Hilux auch trotz übelster Zurichtung – und das nicht nur durch Abrissbirne, Feuer und Unfälle – im demolierten Zustand immer noch weiterfährt.
Der Toyota Hilux ist wahrscheinlich deshalb zu einem der wenigen Sinnbilder der Situation in Afghanistan geworden, weil darin zugleich das Besondere und das Allgemeine in einer sofort verständlichen Weise vermittelt werden können. Ursprünglich handelt es sich um ein ziviles Fahrzeug, das eigentlich dem bürgerlichen Broterwerb im kapitalistischen Westen dient: Landwirte transportieren damit täglich, was sie auf dem Feld brauchen. Handwerker benutzen es für ihre Arbeiten. Dieses Ding wird nun zweckentfremdet. Seine kommerziellen Qualitäten wenden sich gegen seine Absender: Es ist passt sich jeder Situation an, und das ist wie geschaffen für den Guerillakrieg der Taliban. Es ist hart im Nehmen, kann überall repariert werden und braucht nicht viel Diesel. Als ungepanzertes Fahrzeug verkörpert es die Asymmetrie des Krieges, die einheimische Leichtfüßigkeit gegen die unbewegliche, hochgerüstete Kriegsmaschinerie des arroganten Westens.
Bilder bestimmen nicht erst seit Neuestem, nicht erst seit Social Media unsere Deutung der Welt. Propaganda mithilfe von Bildern kennen wir schon aus dem Alten Ägypten. Heute haben wir alle einen Kanon der Bilder, die als Fotografie oder Film entscheidende Momente der jüngeren Geschichte in Erinnerung rufen. Wir verwenden solche Bilder, um uns über die damit verbundenen Zusammenhänge möglichst rasch auszutauschen. Der Augenblick, in dem John F. Kennedy erschossen wird. Genscher und Kohl auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Das zweite Flugzeug kurz vor dem Einschlag ins World Trade Center.
Es müssen mehrere Eigenschaften erfüllt sein, damit ein Bild unendlich oft reproduziert und wird und sich in der kollektiven Wahrnehmung so festsetzt, dass es als Ikone bezeichnet wird, also als Schlüsselbild oder Sinnbild, das einen umfassenden Sachverhalt repräsentiert. Dazu zählen nicht nur ästhetische, kompositorische und dramaturgische Aspekte. Vor allem muss ein solches Bild überwiegend Informationen enthalten, die bereits bekannt sind, und zum geringeren Teil solche, die für das Publikum neu sind. Das Bekannte ermöglicht große Aufmerksamkeit bei vielen Menschen, weil sie schnell verstehen, worum es ungefähr geht. Das Neue enthält das Besondere, das Spezifische dieser Situation. Je nach Bild kann es attraktiv sein, witzig, oder auch irritierend, verstörend, sogar Angst einflößend. Die Toyotas mit aufmontiertem Maschinengewehr und vermummten Talibankämpfern irritieren, weil das zivile Fahrzeug aus seinem vertrauten Kontext verschoben wird in eine kriegerische Handlung. Eine zweite Irritation entsteht, weil die Kämpfer keine uniformierten Soldaten sind. Nur dank ihrer umhängenden Waffe wird die Person als Krieger sichtbar. Springt der Mensch von der Ladefläche und lässt seine Waffe liegen, dann sehen wir nur jemanden auf der Straße, der ein friedlicher Zivilist sein kann. Diese Uneindeutigkeit der Signale verstört und kann sogar verängstigen. Zuletzt ist aber eindeutig, dass es sich bei den Toyotas um Kriegsbeute handelt. Dass sie jetzt von Taliban gefahren werden, zeigt unmittelbar, wer den Krieg gewonnen hat.
Ein Bild, das zur medialen Ikone gerinnt, muss darüber hinaus auch die Illusion erzeugen, dass wir als Betrachter mitten im Geschehen sind. Obwohl wir es uns auf dem Sofa gemütlich gemacht haben, erleben wir doch das Dramatische, das Eigentümliche der Situation aus nächster Nähe. Eine Ikone hat etwas mit uns zu tun, wir finden darin einen Punkt, an den wir mit unserem Leben anknüpfen können. Einen Teil der Geschichte des Bildes konstruieren wir also selbst. Jeder kann seine persönliche Erzählung davon teilen, was er beim Blick auf die Geiselnehmer bei den Olympischen Spielen in München 1972 empfindet. Wem dieses Bild nichts sagt, der verbreitet es auch nicht weiter. Ob ein Bild zur Ikone wird, entscheidet sich unter anderem an dieser Frage: Ob es für uns und viele andere Menschen authentisch und bedeutsam ist. Dieser Punkt ist heute so problematisch, weil Bilder sowohl für Fälschungen als auch für Fehldeutungen besonders anfällig sind. Das wissen auch die meisten Menschen. Und gleichzeitig sehnen wir uns nach Bildern, denen wir mit unseren eigenen Augen trauen können und die für uns die Widersprüche und Komplexität unserer Welt viel einfacher ausdrücken können als tausend Worte.
Ikonographie der Taliban
In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen. Die Berichte darüber im Fernsehen, in den Zeitungen und in den Online-Medien zeigen stets die gleichen Bilder. Jüngst das Chaos am Flughafen in Kabul. Davor Bilder von bärtigen Männern mit Turban, die in Gruppen auf dem Boden kauern. Kontrastierend dazu Bilder einzelner Frauen. Und immer wieder: Ein bestimmter Typ Geländewagen, der übers Land braust.
Bei diesem Geländewagen handelt es sich nicht um ein Militärfahrzeug im engeren Sinne: Es ist nicht der sogenannte Hummer, jener überbreite und flach gebaute, sandfarben lackierte Kampfwagen der US-Armee, der im irakischen Golfkrieg so berühmt-berüchtigt wurde, dass sich Arnold Schwarzenegger ein Exemplar für seinen privaten Fuhrpark zulegte. In der Folge tauchte dieser Hummer in einer entmilitarisierten, aber immer noch unzivilen Version auch auf deutschen Straßen auf. An der Ampel wirkte er als Symbol hormon- und geldprotzender Männlichkeit im Nahkampf um die Aufmerksamkeit des urbanen Publikums.
Nein, die Bilder der gegenwärtigen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zeigen immer wieder ein anderes Fahrzeug: den Pickup namens Hilux von Toyota. Ein allrad-getriebendes Auto, das schon seit Jahrzehnten weltweit als vielseitig und genügsam geschätzt wird. Seine Achsen sind so hoch gebaut, dass der Wagen in jedem Gelände voran kommt – ein erheblicher Vorteil auf unbefestigten Pisten und im Gebirge. Die rückwärtige Ladefläche ist so groß, dass sie einem Dutzend Personen ebenso Platz bietet wie einem darauf montierten Maschinengewehr. Legendär ist die Robustheit des Pickup: Vor Jahren wurde in einem millionenfach geteilten Film gezeigt, dass der Hilux auch trotz übelster Zurichtung – und das nicht nur durch Abrissbirne, Feuer und Unfälle – im demolierten Zustand immer noch weiterfährt.
Der Toyota Hilux ist wahrscheinlich deshalb zu einem der wenigen Sinnbilder der Situation in Afghanistan geworden, weil darin zugleich das Besondere und das Allgemeine in einer sofort verständlichen Weise vermittelt werden können. Ursprünglich handelt es sich um ein ziviles Fahrzeug, das eigentlich dem bürgerlichen Broterwerb im kapitalistischen Westen dient: Landwirte transportieren damit täglich, was sie auf dem Feld brauchen. Handwerker benutzen es für ihre Arbeiten. Dieses Ding wird nun zweckentfremdet. Seine kommerziellen Qualitäten wenden sich gegen seine Absender: Es ist passt sich jeder Situation an, und das ist wie geschaffen für den Guerillakrieg der Taliban. Es ist hart im Nehmen, kann überall repariert werden und braucht nicht viel Diesel. Als ungepanzertes Fahrzeug verkörpert es die Asymmetrie des Krieges, die einheimische Leichtfüßigkeit gegen die unbewegliche, hochgerüstete Kriegsmaschinerie des arroganten Westens.
Bilder bestimmen nicht erst seit Neuestem, nicht erst seit Social Media unsere Deutung der Welt. Propaganda mithilfe von Bildern kennen wir schon aus dem Alten Ägypten. Heute haben wir alle einen Kanon der Bilder, die als Fotografie oder Film entscheidende Momente der jüngeren Geschichte in Erinnerung rufen. Wir verwenden solche Bilder, um uns über die damit verbundenen Zusammenhänge möglichst rasch auszutauschen. Der Augenblick, in dem John F. Kennedy erschossen wird. Genscher und Kohl auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Das zweite Flugzeug kurz vor dem Einschlag ins World Trade Center.
Es müssen mehrere Eigenschaften erfüllt sein, damit ein Bild unendlich oft reproduziert und wird und sich in der kollektiven Wahrnehmung so festsetzt, dass es als Ikone bezeichnet wird, also als Schlüsselbild oder Sinnbild, das einen umfassenden Sachverhalt repräsentiert. Dazu zählen nicht nur ästhetische, kompositorische und dramaturgische Aspekte. Vor allem muss ein solches Bild überwiegend Informationen enthalten, die bereits bekannt sind, und zum geringeren Teil solche, die für das Publikum neu sind. Das Bekannte ermöglicht große Aufmerksamkeit bei vielen Menschen, weil sie schnell verstehen, worum es ungefähr geht. Das Neue enthält das Besondere, das Spezifische dieser Situation. Je nach Bild kann es attraktiv sein, witzig, oder auch irritierend, verstörend, sogar Angst einflößend. Die Toyotas mit aufmontiertem Maschinengewehr und vermummten Talibankämpfern irritieren, weil das zivile Fahrzeug aus seinem vertrauten Kontext verschoben wird in eine kriegerische Handlung. Eine zweite Irritation entsteht, weil die Kämpfer keine uniformierten Soldaten sind. Nur dank ihrer umhängenden Waffe wird die Person als Krieger sichtbar. Springt der Mensch von der Ladefläche und lässt seine Waffe liegen, dann sehen wir nur jemanden auf der Straße, der ein friedlicher Zivilist sein kann. Diese Uneindeutigkeit der Signale verstört und kann sogar verängstigen. Zuletzt ist aber eindeutig, dass es sich bei den Toyotas um Kriegsbeute handelt. Dass sie jetzt von Taliban gefahren werden, zeigt unmittelbar, wer den Krieg gewonnen hat.
Ein Bild, das zur medialen Ikone gerinnt, muss darüber hinaus auch die Illusion erzeugen, dass wir als Betrachter mitten im Geschehen sind. Obwohl wir es uns auf dem Sofa gemütlich gemacht haben, erleben wir doch das Dramatische, das Eigentümliche der Situation aus nächster Nähe. Eine Ikone hat etwas mit uns zu tun, wir finden darin einen Punkt, an den wir mit unserem Leben anknüpfen können. Einen Teil der Geschichte des Bildes konstruieren wir also selbst. Jeder kann seine persönliche Erzählung davon teilen, was er beim Blick auf die Geiselnehmer bei den Olympischen Spielen in München 1972 empfindet. Wem dieses Bild nichts sagt, der verbreitet es auch nicht weiter. Ob ein Bild zur Ikone wird, entscheidet sich unter anderem an dieser Frage: Ob es für uns und viele andere Menschen authentisch und bedeutsam ist. Dieser Punkt ist heute so problematisch, weil Bilder sowohl für Fälschungen als auch für Fehldeutungen besonders anfällig sind. Das wissen auch die meisten Menschen. Und gleichzeitig sehnen wir uns nach Bildern, denen wir mit unseren eigenen Augen trauen können und die für uns die Widersprüche und Komplexität unserer Welt viel einfacher ausdrücken können als tausend Worte.
+++
WDR 3: Kultur am Mittag
+++
Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.