René Spitz: Design & Gestaltung. In: Fritz Frenkler, Birgit Herbst-Gaebel, Michael Molls, Sebastian Stadler, Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): The State of Design. München 2023, 76–81. DOI: 10.14459/2023md1707868
Ausgangsthese: Design ist eine spezifische gestalterische Ausdrucksweise Die Bemühungen um eine Definition des Begriffs »Design« sind ebenso zahlreich wie unabgeschlossen: Es hat sich bislang keine einheitliche oder maßgebliche Definition ergeben. Das Spektrum der Vorschläge reicht von markanten Parolen (»Design ist Kunst, die sich nützlich macht« [1]) über abstrakte Tätigkeitsbeschreibungen von Berufsverbänden und Interessenvertretungen [2] bis zu Aussagen im Duktus eines Manifests. Der Eindruck drängt sich auf, dass mittlerweile Resignation überhandgenommen hat angesichts der Beobachtung, dass eingängige Formeln mit normativem Charakter vor allem subjektive Vorlieben aus der Berufspraxis spiegeln und deskriptive Aussagen daran scheitern, das Spezifische des Designs zu artikulieren. Zusätzliche Verwirrung entsteht dadurch, dass die Bedeutungsnuancen des Begriffs »Design« sich nicht nur dadurch unterscheiden, ob der Begriff von Fachleuten oder von Laien verwendet wird, sondern auch davon, ob dies im Kontext der deutschen oder englischen Sprache erfolgt. Zuletzt bringen erratische Hinweise auf die Etymologie die Argumentationen vollends durcheinander.
These 1: Nicht alles ist Design Die bereits angesprochene Resignation äußert sich vielfach in einer Bemerkung, dass irgendwie ja alles Design sei. [3] Dieser Behauptung kann widersprochen werden. Wenn alles Design wäre, dann hätte der Begriff keinen Aussagegehalt. Ganz im Gegenteil aber wird mit dem Begriff ganz offensichtlich – dafür genügt ein Blick in Zeitschriften, Fachbücher und Schaufenster – ein relativ scharf umrissener Bedeutungsumfang assoziiert. Welche konkrete Aussage damit allerdings getroffen werden soll, ist abhängig vom Sprecherkontext. Das heißt: Nicht alles wird gleichermaßen als Design verstanden, sondern nur etwas Spezifisches.
These 2: Nicht jede Gestaltung ist Design Eine Lesart, deren Fokus etwas eingegrenzt ist, läuft darauf hinaus, dass mit Design jegliche schöpferische bzw. gestalterische Ausdrucksform bezeichnet wird. Im Evangelikalismus wird Gott explizit Designer genannt. [4] Prähistorische Felsbilder werden als Design benannt, Johannes Gutenberg wird als Schriftdesigner tituliert, und körpernahe Dienstleistungen werden als Nail Design beworben. Auch dieser Lesart kann widersprochen werden (unabhängig davon, dass sich der aufwertend gemeinte Gebrauch von Laien im Alltag längst etabliert hat). Denn der Begriff wird in einem spezifischen Kontext als Fachbegriff eingeführt. Das heißt: Mit der Bezeichnung der Berufspraxis »Designer« im frühen 20. Jahrhundert wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei dieser professionellen Tätigkeit um etwas Neues und anderes handelt. [5] Zur Abgrenzung dieses Neuen gegenüber anderen Praktiken (Architekt, Ingenieur, Künstler, Handwerker) dient der Begriff »Design«. »Gestaltung« ist ein Terminus technicus, der nicht ins Englische übersetzt wird. Mit Gestaltung ist das Erzeugen einer Gestalt gemeint. Der Gestaltbegriff ist neutral, er ist weder auf- noch abwertend konnotiert. Der Gestaltbegriff ist kontextunabhängig: Alles kann gestaltet werden, nicht nur Dinge und Botschaften, sondern auch Abläufe, Zusammenhänge oder Stimmungen. Die Kraft, die ihr Umfeld gestaltet, kann ebenso ein Mensch wie auch ein Tier oder sogar eine Naturgewalt sein. Durch die Gestalttheorie ist der Gestaltbegriff im Wesentlichen definiert: Er bezeichnet eine Erscheinung, die vom Menschen holistisch mit allen Sinnen zugleich wahrgenommen wird. Die einzelnen Sinneseindrücke wirken danach nicht isoliert und additiv, sondern der Gesamteindruck entsteht synästhetisch. Wer gestaltet, formt diese ganzheitliche Sinneswahrnehmung. Zweifellos handelt es sich bei Design um Gestaltung. Die spezifische Berufspraxis, die um 1920 in den USA als »Design« bezeichnet wird – das Schriftliche folgt dem Mündlichen mit etwas zeitlichem Abstand – , ist eine spezialisierte Tätigkeit in einem scharf umrissenen Zusammenhang. Sie ist durch folgende Merkmale charakterisiert: a) Design ist ein Glied der industriellen Wertschöpfungskette; b) die industrielle Produktion ist gekennzeichnet durch Arbeitsteilung; c) industrielle Zusammenhänge sind immer kommerziell; d) die Produktion ist auf die massenhafte serielle Vervielfältigung identischer Produkte ausgerichtet, das können sowohl Gegenstände als auch Botschaften sein.
These 3: Definitionsvorschlag: Design Daraus ergibt sich folgender Definitionsvorschlag: Design ist das Phänomen der modernen Gestaltung im industriellen, sequenziellen, kommerziellen und seriellen Kontext. Mit Design wird sowohl der Prozess als auch das Resultat bezeichnet. Zur Erläuterung: a) Das Phänomen Design tritt erst als Element im System der Industrie in Erscheinung. Es wäre eine unzulässige Verwischung substanzieller Differenzen, wenn die Gestaltung in vorindustriellen Zusammenhängen – z. B. Manufakturen in der römischen Antike, die gleichartige Ziegel produzierten; der Buchdruck mit beweglichen Lettern in der frühen Neuzeit – mit der Industrie gleichgesetzt würde. Die Verortung in der Industrie unterscheidet Design von Architektur. b) Design hat im System der Industrie einen bestimmten Platz. Design wird von Spezialisten ausgeübt, die sich auf diese Praxis konzentrieren. Was davor, daneben und danach geschieht, liegt in der Verantwortung von anderen Spezialisten. Die Arbeitsteilung unterscheidet Design vom Handwerk. c) Design ist erforderlich, damit industrielle kommerzielle Angebote realisiert und kommuniziert werden. Auch wenn mittlerweile ein erheblicher Anteil der Designpraxis in nichtkommerziellen Zusammenhängen ausgeübt wird, entsteht dadurch keine andere Praxis. Der kommerzielle Rahmen unterscheidet das Design von der Kunst. d) Die moderne Industrie ist das erste System der Menschheitsgeschichte, das identische Gerätschaften und Botschaften in hohen Auflagen produziert. Design leistet dafür etwas, worauf nicht verzichtet werden kann: Es entwickelt Vorlagen für die Vervielfältigung. Die Ausrichtung auf die Serienproduktion unterscheidet das Design von Architektur, Handwerk und Kunst. Wie jede Definition, so gelingt es auch diesem Vorschlag nicht, das gesamte Spektrum des Phänomens Design vollständig und konsistent zu beschreiben. An der Peripherie, die sich im Laufe der historischen Entwicklung ergeben hat, sind Praktiken im Design entstanden, die durch diese Definition nur unzureichend erfasst werden. Dazu zählen z. B. Anteile des Fotodesigns, Modedesigns oder auch Servicedesigns. Darüber hinaus bewegt sich mit der digitalen Transformation der Industrie auch das Design gegenwärtig in eine Richtung, die durch diese Definition überhaupt nicht beschrieben wird. Kommerzielle Entwürfe für kostenlosen 3D-Druck in der Sharing Economy sind z. B. danach nicht Design, weil es sich nicht um Serienprodukte, sondern um Unikate handelt, die für jeden Einzelfall angepasst werden – die Auflage ist hier irrelevant. Aber genau der Aspekt der massenhaften Erzeugung identischer Produkte in einer Serie charakterisiert die industrielle Herstellung. Es muss deshalb zu Recht gefragt werden, ob für Gestaltung in diesen neuen postindustriellen Zusammenhängen ein neuer Begriff gesucht werden muss, um den systemischen Unterschied zum industriellen Design zu benennen.
These 4: Leistungsversprechen des Designs Mit Peter F. Stephan kann die Leistung des Designs als Antizipation kultureller Praxis beschrieben werden. Damit ist gemeint, dass der Fokus im Design auf die Zukunft gerichtet ist: Design will einen bestehenden und kritisierten Zustand in einen Zustand überführen, der einer gewünschten Situation entspricht. Dafür muss Design vorwegnehmen, wie sich Menschen verhalten werden. Design ist besonders erfolgreich, wenn die Antizipation der kulturellen Praxis zutrifft. Dann entsteht eine Innovation. Dessen ungeachtet kann auch die Variation des Bestehenden als Design bezeichnet werden, selbst wenn sie nicht auf Innovation gründet. Kulturelle Praxis entsteht nicht durch Funktion, sondern durch Anwendung. Mit Funktion wird die Perspektive des Urhebers von Design zum Ausdruck gebracht. Es ist eine autoritäre Zuweisung: Ein bestimmter Gegenstand soll in einer bestimmten Weise verwendet werden, und darauf wurde das Design ausgerichtet. Was das Publikum dann aber tatsächlich realisiert, steht auf einem anderen Blatt. Das Publikum kümmert sich nicht um die Absichten des Urhebers, es wendet einfach das Angebot in seinem Sinne an. Der sprachliche Ausdruck verdeutlicht diesen Vorgang: Es findet eine Wendung statt. Der Begriff »Anwendung« beschreibt deshalb die Perspektive der Nutzung von Design. In der Anwendung wird die vor- oder zugeschriebene Funktion auf den jeweiligen Kontext der Nutzung bezogen. Deshalb kann es kein zeitlos gültiges Design geben, weil sich Kontexte permanent ändern. [6]
These 5: Kernkompetenzen im Design Den Untersuchungen folgend, die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung Designing Design Education durchgeführt wurden, können die Kernkompetenzen, die im Zentrum der Designpraxis stehen, als Visionieren und Visualisieren beschrieben werden. [7] Mit Visionieren ist die Entwicklung eines Vorstellungsbildes gemeint: eine Idee, ein Ansatz, ein Konzept. Dabei handelt es sich um eine mentale Leistung, die nicht von außen nachvollziehbar ist. Sie basiert auf der kritischen Distanz zu einer gegebenen bzw. vorgefundenen Situation. Mit Visualisierung ist die von außen sichtbare Veranschaulichung der inneren Vorstellung gemeint. Diese Veranschaulichung wird oft in Form einer zeichnerischen Darstellung geleistet, ist aber darauf nicht beschränkt. Sämtliche Darstellungsformen, auch verbale oder performative, sind dafür geeignet, solange es gelingt, die Idee verständlich zu kommunizieren. Das Entwerfen ist die iterative Tätigkeit, die als Scharnier zwischen Visionieren und Visualisieren dient. Durch das Veranschaulichen konkretisiert sich die Vorstellung, sie wird überprüfbar und provoziert Änderungen und Präzisierungen. Deshalb steht der Entwurf im Mittelpunkt der Designpraxis. Für das Visionieren und das Visualisieren spielt das Zusammenspiel von Hand und Kopf, von mentalen und manuellen Abläufen, eine zentrale Rolle. Beide Kompetenzen bedingen sich gegenseitig (»thinking with hands«).
Endnoten
[1] Die Überschrift des Plakats von Pierre Mendell und Klaus Oberer »Agfa: Design ist Kunst, die sich nützlich macht« (1980) wurde 1985 zum Titel des Sammlungskatalogs der Neuen Sammlung München: Hans Wichmann (Hg.). Industrial Design, Unikate, Serienerzeugnisse. Die Neue Sammlung. Ein neuer Museumstyp des 20. Jahrhunderts. München 1985. Daraus wurde das eigenständige Plakat abgeleitet. Vgl. Cartwright, J. (2013, July 17). Graphic Design: Legendary poster design from the late Pierre Mendell – lose yourself in his archive. https://www.itsnicethat. com/articles/pierremendell
[2] World Design Organization, Professional Practice Committee (2015, October 17). Definition of Industrial Design. Abgerufen von https://wdo.org/about/ definition/
[3] Vitra Design Museum (2015, September 26). Das Bauhaus #allesistdesign. Abgerufen von https://www.designmuseum.de/de/ausstellungen/detailseiten/bauhaus
[4] Spaulding, B. (o. D.) God as designer. Abgerufen am 09.02.2023 von https://godand- nature.asa3.org/spauldinggod asdesigner.html
[5] Erster Nachweis im Englischen durch William Addison Dwiggins 1922, im Deutschen durch Mart Stam 1948.
[6] Nicht zuletzt steht die Rede von der Zeitlosigkeit im Widerspruch zum Paradigma der Moderne, wonach in der Gegenwart die Zukunft gestaltet werden kann und gestaltet werden muss, unabhängig davon, was in der Vergangenheit gültig gewesen ist.
[7] Böninger, C., Frenkler, F., & Schmidhuber, S. (Hg.) (2021). Designing Design Education. Weißbuch zur Zukunft der Designlehre. av edition.
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Design & Gestaltung
René Spitz: Design & Gestaltung. In: Fritz Frenkler, Birgit Herbst-Gaebel, Michael Molls, Sebastian Stadler, Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): The State of Design. München 2023, 76–81. DOI: 10.14459/2023md1707868
Ausgangsthese: Design ist eine spezifische gestalterische Ausdrucksweise
Die Bemühungen um eine Definition des Begriffs »Design« sind ebenso zahlreich wie unabgeschlossen: Es hat sich bislang keine einheitliche oder maßgebliche Definition ergeben. Das Spektrum der Vorschläge reicht von markanten Parolen (»Design ist Kunst, die sich nützlich macht« [1]) über abstrakte Tätigkeitsbeschreibungen von Berufsverbänden und Interessenvertretungen [2] bis zu Aussagen im Duktus eines Manifests. Der Eindruck drängt sich auf, dass mittlerweile Resignation überhandgenommen hat angesichts der Beobachtung, dass eingängige Formeln mit normativem Charakter vor allem subjektive Vorlieben aus der Berufspraxis spiegeln und deskriptive Aussagen daran scheitern, das Spezifische des Designs zu artikulieren.
Zusätzliche Verwirrung entsteht dadurch, dass die Bedeutungsnuancen des Begriffs »Design« sich nicht nur dadurch unterscheiden, ob der Begriff von Fachleuten oder von Laien verwendet wird, sondern auch davon, ob dies im Kontext der deutschen oder englischen Sprache erfolgt. Zuletzt bringen erratische Hinweise auf die Etymologie die Argumentationen vollends durcheinander.
These 1: Nicht alles ist Design
Die bereits angesprochene Resignation äußert sich vielfach in einer Bemerkung, dass irgendwie ja alles Design sei. [3]
Dieser Behauptung kann widersprochen werden. Wenn alles Design wäre, dann hätte der Begriff keinen Aussagegehalt. Ganz im Gegenteil aber wird mit dem Begriff ganz offensichtlich – dafür genügt ein Blick in Zeitschriften, Fachbücher und Schaufenster – ein relativ scharf umrissener Bedeutungsumfang assoziiert. Welche konkrete Aussage damit allerdings getroffen werden soll, ist abhängig vom Sprecherkontext. Das heißt: Nicht alles wird gleichermaßen als Design verstanden, sondern nur etwas Spezifisches.
These 2: Nicht jede Gestaltung ist Design
Eine Lesart, deren Fokus etwas eingegrenzt ist, läuft darauf hinaus, dass mit Design jegliche schöpferische bzw. gestalterische Ausdrucksform bezeichnet wird. Im Evangelikalismus wird Gott explizit Designer genannt. [4] Prähistorische Felsbilder werden als Design benannt, Johannes Gutenberg wird als Schriftdesigner tituliert, und körpernahe Dienstleistungen werden als Nail Design beworben. Auch dieser Lesart kann widersprochen werden (unabhängig davon, dass sich der aufwertend gemeinte Gebrauch von Laien im Alltag längst etabliert hat). Denn der Begriff wird in einem spezifischen Kontext als Fachbegriff eingeführt. Das heißt: Mit der Bezeichnung der Berufspraxis »Designer« im frühen 20. Jahrhundert wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei dieser professionellen Tätigkeit um etwas Neues und anderes handelt. [5] Zur Abgrenzung dieses Neuen gegenüber anderen Praktiken (Architekt, Ingenieur, Künstler, Handwerker) dient der Begriff »Design«.
»Gestaltung« ist ein Terminus technicus, der nicht ins Englische übersetzt wird. Mit Gestaltung ist das Erzeugen einer Gestalt gemeint. Der Gestaltbegriff ist neutral, er ist weder auf- noch abwertend konnotiert. Der Gestaltbegriff ist kontextunabhängig: Alles kann gestaltet werden, nicht nur Dinge und Botschaften, sondern auch Abläufe, Zusammenhänge oder Stimmungen. Die Kraft, die ihr Umfeld gestaltet, kann ebenso ein Mensch wie auch ein Tier oder sogar eine Naturgewalt sein. Durch die Gestalttheorie ist der Gestaltbegriff im Wesentlichen definiert: Er bezeichnet eine Erscheinung, die vom Menschen holistisch mit allen Sinnen zugleich wahrgenommen wird. Die einzelnen Sinneseindrücke wirken danach nicht isoliert und additiv, sondern der Gesamteindruck entsteht synästhetisch. Wer gestaltet, formt diese ganzheitliche Sinneswahrnehmung.
Zweifellos handelt es sich bei Design um Gestaltung. Die spezifische Berufspraxis, die um 1920 in den USA als »Design« bezeichnet wird – das Schriftliche folgt dem Mündlichen mit etwas zeitlichem Abstand – , ist eine spezialisierte Tätigkeit in einem scharf umrissenen Zusammenhang. Sie ist durch folgende Merkmale charakterisiert:
a) Design ist ein Glied der industriellen Wertschöpfungskette;
b) die industrielle Produktion ist gekennzeichnet durch Arbeitsteilung;
c) industrielle Zusammenhänge sind immer kommerziell;
d) die Produktion ist auf die massenhafte serielle Vervielfältigung identischer Produkte ausgerichtet, das können sowohl Gegenstände als auch Botschaften sein.
These 3: Definitionsvorschlag: Design
Daraus ergibt sich folgender Definitionsvorschlag: Design ist das Phänomen der modernen Gestaltung im industriellen, sequenziellen, kommerziellen und seriellen Kontext. Mit Design wird sowohl der Prozess als auch das Resultat bezeichnet. Zur Erläuterung:
a) Das Phänomen Design tritt erst als Element im System der Industrie in Erscheinung. Es wäre eine unzulässige Verwischung substanzieller Differenzen, wenn die Gestaltung in vorindustriellen Zusammenhängen – z. B. Manufakturen in der römischen Antike, die gleichartige Ziegel produzierten; der Buchdruck mit beweglichen Lettern in der frühen Neuzeit – mit der Industrie gleichgesetzt würde. Die Verortung in der Industrie unterscheidet Design von Architektur.
b) Design hat im System der Industrie einen bestimmten Platz. Design wird von Spezialisten ausgeübt, die sich auf diese Praxis konzentrieren. Was davor, daneben und danach geschieht, liegt in der Verantwortung von anderen Spezialisten. Die Arbeitsteilung unterscheidet Design vom Handwerk.
c) Design ist erforderlich, damit industrielle kommerzielle Angebote realisiert und kommuniziert werden. Auch wenn mittlerweile ein erheblicher Anteil der Designpraxis in nichtkommerziellen Zusammenhängen ausgeübt wird, entsteht dadurch keine andere Praxis. Der kommerzielle Rahmen unterscheidet das Design von der Kunst.
d) Die moderne Industrie ist das erste System der Menschheitsgeschichte, das identische Gerätschaften und Botschaften in hohen Auflagen produziert. Design leistet dafür etwas, worauf nicht verzichtet werden kann: Es entwickelt Vorlagen für die Vervielfältigung. Die Ausrichtung auf die Serienproduktion unterscheidet das Design von Architektur, Handwerk und Kunst.
Wie jede Definition, so gelingt es auch diesem Vorschlag nicht, das gesamte Spektrum des Phänomens Design vollständig und konsistent zu beschreiben. An der Peripherie, die sich im Laufe der historischen Entwicklung ergeben hat, sind Praktiken im Design entstanden, die durch diese Definition nur unzureichend erfasst werden. Dazu zählen z. B. Anteile des Fotodesigns, Modedesigns oder auch Servicedesigns.
Darüber hinaus bewegt sich mit der digitalen Transformation der Industrie auch das Design gegenwärtig in eine Richtung, die durch diese Definition überhaupt nicht beschrieben wird. Kommerzielle Entwürfe für kostenlosen 3D-Druck in der Sharing Economy sind z. B. danach nicht Design, weil es sich nicht um Serienprodukte, sondern um Unikate handelt, die für jeden Einzelfall angepasst werden – die Auflage ist hier irrelevant. Aber genau der Aspekt der massenhaften Erzeugung identischer Produkte in einer Serie charakterisiert die industrielle Herstellung. Es muss deshalb zu Recht gefragt werden, ob für Gestaltung in diesen neuen postindustriellen Zusammenhängen ein neuer Begriff gesucht werden muss, um den systemischen Unterschied zum industriellen Design zu benennen.
These 4: Leistungsversprechen des Designs
Mit Peter F. Stephan kann die Leistung des Designs als Antizipation kultureller Praxis beschrieben werden. Damit ist gemeint, dass der Fokus im Design auf die Zukunft gerichtet ist: Design will einen bestehenden und kritisierten Zustand in einen Zustand überführen, der einer gewünschten Situation entspricht. Dafür muss Design vorwegnehmen, wie sich Menschen verhalten werden.
Design ist besonders erfolgreich, wenn die Antizipation der kulturellen Praxis zutrifft. Dann entsteht eine Innovation. Dessen ungeachtet kann auch die Variation des Bestehenden als Design bezeichnet werden, selbst wenn sie nicht auf Innovation gründet.
Kulturelle Praxis entsteht nicht durch Funktion, sondern durch Anwendung. Mit Funktion wird die Perspektive des Urhebers von Design zum Ausdruck gebracht. Es ist eine autoritäre Zuweisung: Ein bestimmter Gegenstand soll in einer bestimmten Weise verwendet werden, und darauf wurde das Design ausgerichtet. Was das Publikum dann aber tatsächlich realisiert, steht auf einem anderen Blatt. Das Publikum kümmert sich nicht um die Absichten des Urhebers, es wendet einfach das Angebot in seinem Sinne an. Der sprachliche Ausdruck verdeutlicht diesen Vorgang: Es findet eine Wendung statt. Der Begriff »Anwendung« beschreibt deshalb die Perspektive der Nutzung von Design. In der Anwendung wird die vor- oder zugeschriebene Funktion auf den jeweiligen Kontext der Nutzung bezogen. Deshalb kann es kein zeitlos gültiges Design geben, weil sich Kontexte permanent ändern. [6]
These 5: Kernkompetenzen im Design
Den Untersuchungen folgend, die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung Designing Design Education durchgeführt wurden, können die Kernkompetenzen, die im Zentrum der Designpraxis stehen, als Visionieren und Visualisieren beschrieben werden. [7]
Mit Visionieren ist die Entwicklung eines Vorstellungsbildes gemeint: eine Idee, ein Ansatz, ein Konzept. Dabei handelt es sich um eine mentale Leistung, die nicht von außen nachvollziehbar ist. Sie basiert auf der kritischen Distanz zu einer gegebenen bzw. vorgefundenen Situation.
Mit Visualisierung ist die von außen sichtbare Veranschaulichung der inneren Vorstellung gemeint. Diese Veranschaulichung wird oft in Form einer zeichnerischen Darstellung geleistet, ist aber darauf nicht beschränkt. Sämtliche Darstellungsformen, auch verbale oder performative, sind dafür geeignet, solange es gelingt, die Idee verständlich zu kommunizieren.
Das Entwerfen ist die iterative Tätigkeit, die als Scharnier zwischen Visionieren und Visualisieren dient. Durch das Veranschaulichen konkretisiert sich die Vorstellung, sie wird überprüfbar und provoziert Änderungen und Präzisierungen. Deshalb steht der Entwurf im Mittelpunkt der Designpraxis.
Für das Visionieren und das Visualisieren spielt das Zusammenspiel von Hand und Kopf, von mentalen und manuellen Abläufen, eine zentrale Rolle. Beide Kompetenzen bedingen sich gegenseitig (»thinking with hands«).
Endnoten
[1] Die Überschrift des Plakats von Pierre Mendell und Klaus Oberer »Agfa: Design ist Kunst, die sich nützlich macht« (1980) wurde 1985 zum Titel des Sammlungskatalogs der Neuen Sammlung München: Hans Wichmann (Hg.). Industrial Design, Unikate, Serienerzeugnisse. Die Neue Sammlung. Ein neuer Museumstyp des 20. Jahrhunderts. München 1985. Daraus wurde das eigenständige Plakat abgeleitet. Vgl. Cartwright, J. (2013, July 17). Graphic Design: Legendary poster design from the late Pierre Mendell – lose yourself in his archive. https://www.itsnicethat. com/articles/pierremendell
[2] World Design Organization, Professional Practice Committee (2015, October 17). Definition of Industrial Design. Abgerufen von https://wdo.org/about/ definition/
[3] Vitra Design Museum (2015, September 26). Das Bauhaus #allesistdesign. Abgerufen von https://www.designmuseum.de/de/ausstellungen/detailseiten/bauhaus
[4] Spaulding, B. (o. D.) God as designer. Abgerufen am 09.02.2023 von https://godand- nature.asa3.org/spauldinggod asdesigner.html
[5] Erster Nachweis im Englischen durch William Addison Dwiggins 1922, im Deutschen durch Mart Stam 1948.
[6] Nicht zuletzt steht die Rede von der Zeitlosigkeit im Widerspruch zum Paradigma der Moderne, wonach in der Gegenwart die Zukunft gestaltet werden kann und gestaltet werden muss, unabhängig davon, was in der Vergangenheit gültig gewesen ist.
[7] Böninger, C., Frenkler, F., & Schmidhuber, S. (Hg.) (2021). Designing Design Education. Weißbuch zur Zukunft der Designlehre. av edition.
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