Design – Engagement für eine menschliche Zukunft (seit 1953) / Commitment for a Humane Future (Since 1953)
28. Juli 2023
Als Vertreter der iF Design Foundation habe ich anlässlich der Gründung des iF vor 70 Jahren (1953) bei der Gala von iF Asien in Taipeh den historischen Kontext beleuchtet, der für uns heute vielfach aktueller denn je erscheint. Mehr dazu: iF Design Foundation
As a representative of the iF Design Foundation, on the occasion of the founding of iF 70 years ago (1953) I shed light on the historical context – which in many ways seems more relevant than ever to us today – at the iF Asia gala in Taipei. Read more:
Als Vertreter der iF Design Foundation habe ich anlässlich der Gründung des iF vor 70 Jahren (1953) bei der Gala von iF Asien in Taipeh den historischen Kontext beleuchtet, der für uns heute vielfach aktueller denn je erscheint. Mehr dazu: iF Design Foundation
+++
Design als Teil der Moderne
Design ist ein neuer Begriff, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Realität benennt. Dieses Phänomen wurde vorher Industriekunst genannt. Design ist sowohl ein Kind der Moderne als auch ein Faktor, der den historischen Prozess der Moderne antreibt und stabilisiert. Die Moderne ist im Kern kein ästhetisches Phänomen, sondern ein anderes Zeitverständnis: Vor der Moderne war die Vergangenheit wichtig, und Traditionen bestimmten, was, von wem, wie und warum etwas getan werden musste. Die Menschen ließen sich von dem leiten, was ihnen von ihren Vorfahren überliefert wurde. Für die Moderne gilt das Gegenteil: Die Modernen blicken nicht zurück, sondern nach vorne. Die Vergangenheit hilft uns nicht, die Zukunft zu gestalten. Weil wir unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen, müssen wir uns unsere eigenen Urteile bilden. Der moderne Mensch steht allen Behauptungen anderer grundsätzlich kritisch gegenüber. Denn mit der modernen Wissenschaft wird den Menschen klar, dass es sich bei vielen Glaubenssätzen und Überzeugungen aus der Vergangenheit tatsächlich um Aberglauben und Irrtümer handelt. Für die Modernen ist die Zukunft nicht festgelegt, wir können sie gestalten. Jeder Einzelne ist dazu aufgerufen, seine Zukunft frei und autonom zu entwickeln. Deshalb ist die Moderne im Kern durch und durch politisch. Der Erste Weltkrieg erschütterte allerdings den Fortschrittsglauben der Moderne. Alles, was sie der Menschheit für eine lebenswerte Zukunft versprochen hatte, verwandelt sich plötzlich in eine unmenschliche, unvorstellbar grausame Schlachtfabrik.
Der Kern des Bauhauses: Wir gestalten den Alltag als Kunst
Ohne diesen Schock für die ganze Welt ist das Bauhaus nicht verständlich. Was können die Modernen tun, um nicht zu verzweifeln? Walter Gropius und seine Kollegen suchen die Lösung nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Sie wollen etwas Neues auf die Beine stellen, denn das Alte hat in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt. Sie wollen neue Formen entwickeln, um die Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft, die sich von den alten Traditionen befreit hat. Die Kunst dient ihnen als Leitfaden. Denn für die Gründer des Bauhauses ist Kunst international, eine verbindende Kraft für die Menschheit. Kunst ist die Lösung der Frage, wie die Gesellschaft in eine friedliche und freie Gesellschaft umgewandelt werden kann. Das Bauhaus ist die einflussreichste Kunstschule des 20. Jahrhunderts. Ihr Ziel ist es, Kunst in den Alltag zu übertragen. Das Instrument dazu ist die Architektur: Das Haus ist der Mittelpunkt, alles ist darauf ausgerichtet, das Gebäude als Gesamtkunstwerk zu gestalten. Als Partner kommt dann die Industrie hinzu, insbesondere am Bauhaus Dessau. Dabei entstehen Entwürfe, die den künstlerischen Regeln einer neuen Ästhetik, der sogenannten Industrieästhetik, unterliegen. Obwohl es ein Widerspruch in sich ist, spricht man schnell vom Bauhaus-Stil: Eigentlich sollten Stile überwunden und jede Form eigenständig aus ihrer Aufgabe heraus entwickelt werden. Dass diese Überzeugungen und Ziele durchaus politischer Natur waren, zeigt sich schon daran, dass die herrschenden Politiker das Bauhaus verachteten und bekämpften.
Demokratischer Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg starteten in ganz Deutschland demokratische Initiativen. Die gestalterisch wichtigste entstand in Ulm, wo die Hochschule für Gestaltung (1953–1968) gegründet wurde. Für sie sind alle Traditionen fragwürdig geworden, da sie die Machtergreifung und das tägliche Terrorregime der Nationalsozialisten nicht verhindert hatten. Die HfG lehnt auch die Idee ab, dass die Kunst den Maßstab für ein vollkommenes Leben bildet. Wir erkennen in den frühen 1950er Jahren überall eine Spannung zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen Wiederaufbau und neuen Formen. Es ist wie das Nebeneinander sichtbarer Zerstörungen durch den Krieg und neu errichteter Straßen und Gebäude mit neuem Autoverkehr. Gleichzeitig gibt es immer noch einige wichtige und kraftvolle Initiativen, die nicht umbauen, sondern eine neue Zukunft entwickeln wollen. Zum Beispiel in Hannover. 1947 hatte die britische Militärregierung die Durchführung der Industriemesse hier organisiert.
1953: Die Geburtsstunde von iF
1953 veranstaltete die Deutsche Industrie-Messe ihre erste Ausstellung ausgewählter Produkte unter dem Titel „Sonderschau formgerechter Industrieerzeugnisse“. Diese Initiative wurde von Vertretern aus Wirtschaft, Kultur und Politik gegründet. Sie wollten zu einer friedlichen, freien und demokratischen Zukunft beitragen. Sie waren davon überzeugt, dass Design gleichermaßen soziale, produktionstechnische, wirtschaftliche, funktionale, kulturelle und ästhetische Aspekte umfasst. Aus heutiger Sicht gesagt: Sie wollten Design als Kernbestandteil der Nachhaltigkeit fördern. Das war die Geburtsstunde des iF. Aus dem Titel der ersten Buchveröffentlichung im Jahr 1954 „GESTALTETE INDUSTRIEFORM IN DEUTSCHLAND“ leitet sich der Name ab: iF ist eine Abkürzung für Industrieform.
Die Ernüchterung der späten 1960er Jahre
Ende der 1960er Jahre wurde offensichtlich, dass die Moderne ihre Versprechen nicht eingehalten hat. Die Welt war nicht friedlicher, freier, gerechter und menschlicher geworden. Die modern gestaltete Welt war nicht besser geworden, nur anders. Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steve Izenour legten den Finger auf die Wunde, als sie sich darüber lustig machten, dass mitten in der Wüste von Nevada eine Stadt wuchs und gedieh, die in der Moderne eigentlich nicht existieren sollte. Eine Stadt, die sich in keinster Weise um die ästhetischen Regeln scherte, die zu einer besseren Gesellschaft führen sollten. Hier ging es um nichts weiter als Spaß und Unterhaltung, eine lustige Fassade und eine auffällige Dekoration. Das Symbol ist hier wichtiger als die Substanz. Ironie wurde Ende der 1960er Jahre zum bestimmenden Ton jeder Erzählung – die vor allem unterhaltsam sein musste. Wer es ernst meinte, wurde ausgelacht. Die historischen Formen wurden als Repertoire für Zitate und Collagen entdeckt. Es gab keinen Fortschritt oder Perfektion mehr, nur noch Transformation. Und der Sinn des Konsums ist der Konsum von Sinn. Design steckte mitten in dieser Debatte, als die Digitalisierung Einzug hielt.
Design im 21. Jahrhundert: Umgang mit bösartigen Problemen
Seitdem haben wir eine neue Debatte. Die moderne Welt ist eine Welt des Designs. Im 20. Jahrhundert hat Design hat das Verschwinden vormoderner Dinge verursacht. In der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts verschwinden die Dinge selbst. Unsere Welt, die moderne industrialisierte Welt, ist eine komplexe Welt. Sie ist durch sogenannte bösartige Probleme („wicked problems“) gekennzeichnet. Es gibt unendlich viele gegenseitige Abhängigkeiten. Sie können nicht von außen, von einer neutralen Position, untersucht werden. Wer die Probleme lösen will, ist weder unabhängig noch objektiv. Alle relevanten Aufgaben der Gegenwart sind solche „wicked problems“: Covid-Pandemie, Klimawandel, Massenkonsum, soziale Medien, Energie, Plastik, usw. Schon vor 50 Jahren sprach der Club of Rome davon, dass es Grenzen des Wachstums gibt und wir neue Strategien entwickeln müssen, um die drängenden gesellschaftlichen Aufgaben zu meistern. Dieser Bericht öffnete die Türen zur Nachhaltigkeit. Eine weitere Kernaussage in diesem Bericht lautete aber auch: Bildung ist erforderlich, um diese Herausforderungen zu verstehen und sie zu meistern. Unsere Aufgaben sind keine einfachen, sondern bösartige Probleme. Aber wir orientieren uns meist noch an Lösungen des 20. Jahrhunderts für einfache, sogenannte zahme Probleme. Zahme Probleme sind gelöst. Leider geben wir immer wieder neue Antworten und ignorieren, dass die Frage bereits beantwortet ist. Mittlerweile ist jedoch die einfache Gestaltung einfacher Werkzeuge keine Lösung, sondern ein Problem. Wir brauchen Bildung, wenn wir mit den gegenwärtigen komplexen und bösartigen Aufgaben umgehen wollen, mit Unsicherheit, Widersprüchen, unterschiedlichen Interessen und Perspektiven. Kritisches Denken braucht Bildung. Einfache Antworten führen zu Hass und Zerstörung.
Designing Design Education
Als wir 2015 gebeten wurden, eine Designhochschule für das 21. Jahrhundert zu entwickeln, klang das wie eine einmalige Chance. Um diese Aufgabe besser zu verstehen, sind wir um die ganze Welt gereist und haben mit Hunderten von Menschen gesprochen. Wir gingen in Designschulen, Designstudios und in die Industrie. Wir wollten von unseren Gesprächspartnern lernen. Im Grunde hatten wir nur eine Frage: Ist das, was an Designschulen gelehrt wird, das, was für die Zukunft des Designs benötigt wird? Vor zwei Jahren haben wir unsere Ergebnisse veröffentlicht: Designing Design Education: Weissbuch zur Zukunft der Designlehre. Im vergangenen Oktober haben wir unser neues Forschungsprogramm für die nächsten drei Jahre gestartet, um Antworten zu geben, wie dieses neue Designausbildungsprogramm umgesetzt werden kann. Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Wir kombinieren Impulse zu den aktuellen Diskursen mit praktischen Workshops und Reflexion. Unsere Mission ist es, zu einer Entwicklung beizutragen, die zu einer Designausbildung für eine menschliche Zukunft führt. Es wäre großartig, wenn Sie gemeinsam mit uns eine neue Lerngemeinschaft aufbauen.
+++
Design as part of modernity
In the second half of the 19th century, design was a new term to designate a new reality. The phenomenon had previously been called industrial art. Design is both a child of modernity and a factor that drives and stabilizes the historical process of modernity. At its core, modernity is not an aesthetic phenomenon. It’s an expression of a different concept of time: before modernity, the past was important, and traditions determined what had to be done, by whom, how, and why. People were guided by what was handed down to them from their ancestors.
The opposite is true for modernity: modern people do not look back; they look towards the future. The past does not help us shape the future. We have to form our own judgements because we have to make our own decisions. Modern people are fundamentally critical of other people’s claims or statements. This is because, with modern science, people have come to realize that many past beliefs and convictions were indeed superstitions and misconceptions. For the modern human, the future is not predetermined; we can shape it. Each individual is called upon to develop their future in a free and independent way. That is why modernity is intrinsically political.
However, the First World War shattered modernism’s belief in progress. Everything it had promised with regard to a future worth living suddenly turned into an inhumane, unimaginably cruel slaughterhouse.
The essence of the Bauhaus: we design everyday life as art
Without this worldwide shock, it is impossible to understand the Bauhaus. What could modern people do to avoid despair? Walter Gropius and his colleagues were looking for the solution not in the past, but in the future. They wanted to create something new, because the old had led to the catastrophe of the First World War. They wanted to develop new forms to shape the future. A future that would have liberated itself from the old traditions. Art served them as a guide. For the founders of the Bauhaus, art was international, a uniting force for humanity. Art was the answer to the question as to how society could be transformed into a peaceful and free society.
The Bauhaus was the most influential art school of the 20th century. Its aim was to bring art into everyday life. The instrument for this was architecture: the house was the focal point, everything was geared towards making the building a total work of art. Industry became a partner, especially at the Bauhaus Dessau. This resulted in designs that were subject to the artistic rules of a new aesthetic: the so-called industrial aesthetic. Although it was a contradiction in terms, people were quick to refer to ‘the Bauhaus style’: in fact, however, the Bauhaus was about overcoming styles and instead developing each form independently based on its purpose. That these ideas and objectives were definitely political in nature was evident from the fact that the ruling politicians despised and fought against the Bauhaus.
A new democratic beginning after the Second World War
After the Second World War, democratic initiatives sprang up all over Germany. The most significant one in terms of design emerged in Ulm, where the Hochschule für Gestaltung (HfG, 1953-1968) was founded. It questioned all traditions since they had not stopped the National Socialists from seizing power and establishing their daily regime of terror. The HfG also rejected the idea that art was the benchmark for a perfect life.
In the early 1950s, a tension between tradition and progress, between reconstruction and new forms could be observed everywhere. It was similar to the juxtaposition of visible destruction caused by the war and newly constructed roads and buildings with new automotive traffic. At the same time, there were some significant and powerful initiatives that focused not on reconstruction, but on developing a new future. For example, in Hanover: in 1947, the British military government had arranged for the industrial trade fair to take place there.
1953: the beginning of iF
In 1953, the Deutsche Industrie-Messe (German Industrial Fair) staged its first exhibition of selected products with the title Sonderschau formgerechter Industrieerzeugnisse (Special Show of Well-Designed Industrial Goods). This initiative was founded by representatives from business, culture and politics. They wanted to contribute to a peaceful, free and democratic future. They believed that design encompassed social, technical (in terms of production), economic, functional, cultural and aesthetic aspects in equal measure. In today’s terms, they wanted to promote design as a core component of sustainability. That was the birth of the iF. The name is derived from the title of the first book published in 1954, GESTALTETE INDUSTRIEFORM IN DEUTSCHLAND (Designed Industrial Form in Germany): iF is an initialism for industrial form.
The disillusionment of the late 1960s
By the end of the 1960s, it became obvious that modernity had failed to deliver on its promises. The world had not become more peaceful, free, just and humane. The modern, designed world had not become better, only different. Robert Venturi, Denise Scott Brown, and Steve Izenour touched a sore spot when they poked fun at the fact that in the middle of the Nevada desert, a city was growing and thriving that was not supposed to exist in modernity. A city that didn’t care in the least about the aesthetic rules that were supposed to lead to a better society. It was about nothing more than fun and entertainment, a funny facade and eye-catching decoration. The symbol was more important than the substance. Irony became the defining tone of any narrative in the late 1960s – which, above all, had to be entertaining. Anyone who was serious was ridiculed. Historical forms were rediscovered as repertoire for citations and collages. There was no more progress or perfection, only transformation. And the meaning of consumption was the consumption of meaning. Design was in the middle of this debate when digitalization arrived.
Design in the 21st century: dealing with wicked problems
Since then, we have been having a new debate. The modern world is a world of design. In the 20th century, design caused pre-modern things to disappear. In the digital world of the 21st century, things themselves are disappearing. Our world, the modern industrialized world, is a complex world. It is characterized by so-called wicked problems. There are countless interdependencies. They cannot be examined from the outside, from a neutral position. Anyone who wants to solve these problems is neither independent nor objective. All relevant challenges of the present are such „wicked problems“: the Covid pandemic, climate change, mass consumption, social media, energy, plastics, etc.
As early as 50 years ago, the Club of Rome argued that there were limits to growth and that we had to develop new strategies to master the urgent challenges that we were facing. Its report opened the doors to sustainability. Another key message in that report was that education was needed to understand, and to overcome, these challenges.
Our tasks are not simple problems, they are wicked problems. But we are mostly still guided by 20th century solutions to simple, so-called tame problems. Tame problems have been solved. Unfortunately, we keep giving new answers, ignoring that the question has already been answered. Now, however, the simple design of simple tools is not a solution, but a problem.
We need education if we are to deal with the current complex and wicked problems, with uncertainty, contradictions, different interests and perspectives. Critical thinking requires education. Simple answers lead to hatred and destruction.
Designing design education
When, in 2015, we were asked to develop a design school for the 21st century, it sounded like a once-in-a-lifetime opportunity. To better understand this mission, we traveled around the world and talked to hundreds of people. We went to design schools, design studios and to industry. We wanted to learn from the people we talked to. Essentially, we only had one question: Is what is being taught in design schools the kind of thing that is needed for the future of design? Two years ago, we published our findings: Designing Design Education – WhiteBook on the Future of Design Education.
In October 2022, we launched our new three-year research program in order to provide answers on how to implement this new design education program. Not in theory, but in practice. We combine impulses from current discourses with practical workshops and reflection. Our mission is to contribute to a development that will lead to a design education for a humane future. It would be great if you joined us in building a new learning community.
+++
Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Design – Engagement für eine menschliche Zukunft (seit 1953) / Commitment for a Humane Future (Since 1953)