Auf der internationalen Möbelmesse imm Cologne habe ich über 100 Bücher berichtet, die alle Designer kennen sollten. So lautet der Titel eines Buches, das ich Ende letzten Jahres veröffentlicht habe.
Übrigens: Mit »Designer« sind sowohl männliche als auch weibliche als auch diverse Personen gemeint. Ich unterscheide zwischen grammatischem Genus und biologischem Sexus. Selbstverständlich können Sie dazu eine abweichende Ansicht vertreten. Falls Sie diese zur Sprache bringen möchten, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn Sie mir eine Nachricht senden, damit wir uns darüber persönlich austauschen können.
Designer lesen nicht. Diese Aussage stammt nicht von mir. Ich lasse auch dahingestellt, ob es sich dabei um eine wertfreie Beobachtung, einen Vorwurf oder Häme handelt.
Designer lesen nicht. Diese Aussage ist in jedem Fall ein Klischee. Ein Vorurteil, dass Designern entgegen gebracht wird, ganz ausdrücklich oder hinter vorgehaltener Hand. Mit dieser Phrase kann Vieles zum Ausdruck gebracht werden. Zum Beispiel, dass Designer angeblich Bilder den Texten vorzögen. Dass visuelle Suggestion ihnen attraktiver erschiene als verbale Information. Dass Designer nur malen wollten.
Designer lesen nicht: Damit kann die Überraschung oder auch das Entsetzen darüber ausgedrückt werden, dass sich Designer bisweilen wie Kinder darüber freuen, wenn sie für sich etwas gänzlich Neues entdeckt haben – aber nicht realisieren, dass ihre Neu-Entdeckung tatsächlich schon längst ein alter Hut ist.
Das kann ganz fürchterlich peinlich enden. Oder auch sehr schmerzhaft und kostspielig. Dann kann es zum Vorwurf des Plagiats kommen. Und Unwissenheit schützt bekanntlich nicht vor Strafe. Unwissenheit ist einfach unprofessionell. So war es beispielsweise 2015, als das Bildzeichen für die Olympischen Spiele in Tokio präsentiert wurde. Das hat damals sofort zum Skandal geführt, weil der Designer des Markenzeichens für das Théatre de Liège eine zu große Nähe zu seiner Arbeit reklamiert hat. Seinem Einwurf wurde auch stattgegeben, das Logo wurde innerhalb weniger Tage zurückgezogen und neu beauftragt. Darüber wurde weltweit berichtet. Ein unerhörter Gesichtsverlust in Japan!
Designer lesen nicht: Darüber freuen sich auch manche Menschen. Sie sind geradezu dankbar dafür. Damit kann gemeint sein: Designer lesen nicht einmal ihre Vertragsunterlagen. Sie lesen keine Bedingungen, Klauseln, Briefings, Pflichtenheften, Memos oder rechtlichen und kaufmännischen Details. Sie wollen nur »kreativ« sein. Wie zum Hohn finden Sie deshalb unzählige Anleitungen und Vorlagen für Designer, in denen solche Themen hübsch bunt, um nicht zu sagen: kindlich naiv, bebildert werden, und diese Bilder dominieren auch die Texte.
Das ist nicht nur mir aufgefallen. Also: Das Vorurteil, wonach Designer nicht lesen. Das ist auch schon anderen Menschen aufgefallen. Vor zehn Jahren hat daraus einer mal ein Buch gemacht. Er hat das Klischee genommen und als Titel auf sein Buch gesetzt. Die Idee dahinter ist klar und auch völlig naheliegend: Es sollte provozieren. Nach dem Motto: Von wegen, du unverschämter Autor, dir werden wir es zeigen. Wir werden dein Buch lesen! Nun, was soll ich sagen. Das Buch hat sich nicht gut verkauft. Das lässt sich daran ablesen, dass Sie es gebraucht ziemlich oft und billig bekommen. Für nur 5 Dollar – inklusive Versand aus den USA! Das sieht also nach einem traurigen Beweis aus: Designer lesen tatsächlich nicht, nicht einmal, wenn sie beschimpft werden.
Ein Kollege aus der Wissenschaftstheorie hat mir vor ein paar Jahren mal gesagt: Die Spezies der Designer erscheint mir wie Kraken: Als sensible, intelligente, anpassungsfähige Wesen. Sie lernen schnell. Aber was sie gelernt haben, geben sie nicht an die nächste Generation weiter. Jede Generation ist gezwungen, sich ihr Wissen neu zu erarbeiten. Sie knüpft nicht an den Schatz der Erfahrungen an, die frühere Generationen für sie in Institutionen gesammelt haben.
Als ich mich mit einem Kollegen von der Hochschule Düsseldorf darüber unterhielt – Victor Malsy, Professor für Buchgestaltung –, meinte ich: Ich glaube, ich muss für die Design-Studierenden ein Buch zusammenstellen über die 100 Bücher, die sie kennen sollten. Ganz lakonisch sagte er: René, wie langweilig! Deine Liste der 100 Bücher ist völlig vorhersehbar. Stinklangweilig. Bitte, lass es sein. Aber mach doch folgendes: Frag 100 Designer nach dem einen Buch, das aus ihrer Sicht alle Designer kennen sollten. Das wird eine interessante Liste!
Victor Malsy wollte also eine gewisse Form von Unschärfe in die Bücherliste reinbringen. Etwas Irisierendes, oder auch: Irritierendes. Und das drückt sich auch in seiner Gestaltung des Schriftzugs auf dem Titel aus.
Das war also nun das Ziel: 100 Designer empfehlen jeweils das eine Buch, von dem sie meinen, dass jeder Designer es kennen sollte. Die Liste der 100 Designer sollte nun möglichst gemischt sein: 50 Frauen sollten teilnehmen, die Designer sollten aus allen Erdteilen kommen, und die Designer sollten ein möglichst breites Spektrum der beruflichen Praxis repräsentieren. Also: weltberühmte Stars der Szene ebenso wie weniger bekannte; etablierte und Newcomer; selbstständige Unternehmer, freiberufliche Einzelkämpfer und Angestellte aus größeren und kleineren Firmen. Das Ergebnis: Die beteiligten Designer gestalten Alltagsgegenstände, Gebrauchsgüter, Luxusobjekte, Möbel und Maschinen; sie inszenieren Räume und Erlebnisse; sie strukturieren Abläufe und Zusammenarbeit; sie entwickeln Bilder als Illustration, Fotografie oder Komposition; sie entwerfen Vorstellungen und Marken; sie vermitteln Botschaften in Wort und Bild für Drucksachen und digitale Medien. Einige haben sich spezialisiert, andere sind Generalisten.
Und ganz wichtig: Die Designer sollten nicht nur kurz erläutern, warum dieses eine Buch ihnen so sehr am Herzen liegt, dass sie es allen Designern empfehlen. Sondern sie sollten auch ihr eigenes Exemplar auf ihrem Schreibtisch fotografieren. Wir wollten gebrauchte und zerlesene Bücher zeigen, kein Amazon-Verkaufsfoto. Apropos Amazon: Auf bibliografische Angaben haben wir verzichtet. Warum? Weil die Bücher ja aus aller Welt gekommen sind. Da kann es sich um die englische Übersetzung eines deutschen Buches handeln. Oder auch die französische eines englischen Buches. Wir nennen deshalb nur die Namen der Autoren bzw. Herausgeber und den Titel. Erstausgabe, Originalausgabe, Übersetzung, Formate (welcher Ausgabe?), Gestalter (welcher Ausgabe?), Seitenzahl, Verlag: All dies ist zweifellos zu einem späteren Zeitpunkt interessant und relevant – aber für unsere Absicht erschien es uns nicht in erster Linie wichtig. Das Lesen ist wichtig. Wessen Aufmerksamkeit geweckt wird, der findet jedes dieser 100 Bücher als gebrauchten oder neuen Titel in Windeseile.
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Wenn Sie dazu mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
100 Bücher, die alle Designer kennen sollten
Auf der internationalen Möbelmesse imm Cologne habe ich über 100 Bücher berichtet, die alle Designer kennen sollten. So lautet der Titel eines Buches, das ich Ende letzten Jahres veröffentlicht habe.
Übrigens: Mit »Designer« sind sowohl männliche als auch weibliche als auch diverse Personen gemeint. Ich unterscheide zwischen grammatischem Genus und biologischem Sexus. Selbstverständlich können Sie dazu eine abweichende Ansicht vertreten. Falls Sie diese zur Sprache bringen möchten, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn Sie mir eine Nachricht senden, damit wir uns darüber persönlich austauschen können.
Designer lesen nicht. Diese Aussage stammt nicht von mir. Ich lasse auch dahingestellt, ob es sich dabei um eine wertfreie Beobachtung, einen Vorwurf oder Häme handelt.
Designer lesen nicht. Diese Aussage ist in jedem Fall ein Klischee. Ein Vorurteil, dass Designern entgegen gebracht wird, ganz ausdrücklich oder hinter vorgehaltener Hand. Mit dieser Phrase kann Vieles zum Ausdruck gebracht werden. Zum Beispiel, dass Designer angeblich Bilder den Texten vorzögen. Dass visuelle Suggestion ihnen attraktiver erschiene als verbale Information. Dass Designer nur malen wollten.
Designer lesen nicht: Damit kann die Überraschung oder auch das Entsetzen darüber ausgedrückt werden, dass sich Designer bisweilen wie Kinder darüber freuen, wenn sie für sich etwas gänzlich Neues entdeckt haben – aber nicht realisieren, dass ihre Neu-Entdeckung tatsächlich schon längst ein alter Hut ist.
Das kann ganz fürchterlich peinlich enden. Oder auch sehr schmerzhaft und kostspielig. Dann kann es zum Vorwurf des Plagiats kommen. Und Unwissenheit schützt bekanntlich nicht vor Strafe. Unwissenheit ist einfach unprofessionell. So war es beispielsweise 2015, als das Bildzeichen für die Olympischen Spiele in Tokio präsentiert wurde. Das hat damals sofort zum Skandal geführt, weil der Designer des Markenzeichens für das Théatre de Liège eine zu große Nähe zu seiner Arbeit reklamiert hat. Seinem Einwurf wurde auch stattgegeben, das Logo wurde innerhalb weniger Tage zurückgezogen und neu beauftragt. Darüber wurde weltweit berichtet. Ein unerhörter Gesichtsverlust in Japan!
Designer lesen nicht: Darüber freuen sich auch manche Menschen. Sie sind geradezu dankbar dafür. Damit kann gemeint sein: Designer lesen nicht einmal ihre Vertragsunterlagen. Sie lesen keine Bedingungen, Klauseln, Briefings, Pflichtenheften, Memos oder rechtlichen und kaufmännischen Details. Sie wollen nur »kreativ« sein. Wie zum Hohn finden Sie deshalb unzählige Anleitungen und Vorlagen für Designer, in denen solche Themen hübsch bunt, um nicht zu sagen: kindlich naiv, bebildert werden, und diese Bilder dominieren auch die Texte.
Das ist nicht nur mir aufgefallen. Also: Das Vorurteil, wonach Designer nicht lesen. Das ist auch schon anderen Menschen aufgefallen. Vor zehn Jahren hat daraus einer mal ein Buch gemacht. Er hat das Klischee genommen und als Titel auf sein Buch gesetzt. Die Idee dahinter ist klar und auch völlig naheliegend: Es sollte provozieren. Nach dem Motto: Von wegen, du unverschämter Autor, dir werden wir es zeigen. Wir werden dein Buch lesen! Nun, was soll ich sagen. Das Buch hat sich nicht gut verkauft. Das lässt sich daran ablesen, dass Sie es gebraucht ziemlich oft und billig bekommen. Für nur 5 Dollar – inklusive Versand aus den USA! Das sieht also nach einem traurigen Beweis aus: Designer lesen tatsächlich nicht, nicht einmal, wenn sie beschimpft werden.
Ein Kollege aus der Wissenschaftstheorie hat mir vor ein paar Jahren mal gesagt: Die Spezies der Designer erscheint mir wie Kraken: Als sensible, intelligente, anpassungsfähige Wesen. Sie lernen schnell. Aber was sie gelernt haben, geben sie nicht an die nächste Generation weiter. Jede Generation ist gezwungen, sich ihr Wissen neu zu erarbeiten. Sie knüpft nicht an den Schatz der Erfahrungen an, die frühere Generationen für sie in Institutionen gesammelt haben.
Als ich mich mit einem Kollegen von der Hochschule Düsseldorf darüber unterhielt – Victor Malsy, Professor für Buchgestaltung –, meinte ich: Ich glaube, ich muss für die Design-Studierenden ein Buch zusammenstellen über die 100 Bücher, die sie kennen sollten. Ganz lakonisch sagte er: René, wie langweilig! Deine Liste der 100 Bücher ist völlig vorhersehbar. Stinklangweilig. Bitte, lass es sein. Aber mach doch folgendes: Frag 100 Designer nach dem einen Buch, das aus ihrer Sicht alle Designer kennen sollten. Das wird eine interessante Liste!
Victor Malsy wollte also eine gewisse Form von Unschärfe in die Bücherliste reinbringen. Etwas Irisierendes, oder auch: Irritierendes. Und das drückt sich auch in seiner Gestaltung des Schriftzugs auf dem Titel aus.
Das war also nun das Ziel: 100 Designer empfehlen jeweils das eine Buch, von dem sie meinen, dass jeder Designer es kennen sollte. Die Liste der 100 Designer sollte nun möglichst gemischt sein: 50 Frauen sollten teilnehmen, die Designer sollten aus allen Erdteilen kommen, und die Designer sollten ein möglichst breites Spektrum der beruflichen Praxis repräsentieren. Also: weltberühmte Stars der Szene ebenso wie weniger bekannte; etablierte und Newcomer; selbstständige Unternehmer, freiberufliche Einzelkämpfer und Angestellte aus größeren und kleineren Firmen. Das Ergebnis: Die beteiligten Designer gestalten Alltagsgegenstände, Gebrauchsgüter, Luxusobjekte, Möbel und Maschinen; sie inszenieren Räume und Erlebnisse; sie strukturieren Abläufe und Zusammenarbeit; sie entwickeln Bilder als Illustration, Fotografie oder Komposition; sie entwerfen Vorstellungen und Marken; sie vermitteln Botschaften in Wort und Bild für Drucksachen und digitale Medien. Einige haben sich spezialisiert, andere sind Generalisten.
Und ganz wichtig: Die Designer sollten nicht nur kurz erläutern, warum dieses eine Buch ihnen so sehr am Herzen liegt, dass sie es allen Designern empfehlen. Sondern sie sollten auch ihr eigenes Exemplar auf ihrem Schreibtisch fotografieren. Wir wollten gebrauchte und zerlesene Bücher zeigen, kein Amazon-Verkaufsfoto. Apropos Amazon: Auf bibliografische Angaben haben wir verzichtet. Warum? Weil die Bücher ja aus aller Welt gekommen sind. Da kann es sich um die englische Übersetzung eines deutschen Buches handeln. Oder auch die französische eines englischen Buches. Wir nennen deshalb nur die Namen der Autoren bzw. Herausgeber und den Titel. Erstausgabe, Originalausgabe, Übersetzung, Formate (welcher Ausgabe?), Gestalter (welcher Ausgabe?), Seitenzahl, Verlag: All dies ist zweifellos zu einem späteren Zeitpunkt interessant und relevant – aber für unsere Absicht erschien es uns nicht in erster Linie wichtig. Das Lesen ist wichtig. Wessen Aufmerksamkeit geweckt wird, der findet jedes dieser 100 Bücher als gebrauchten oder neuen Titel in Windeseile.
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