Kleider machen Leute. Daran hat die Moderne nichts geändert. Ganz im Gegenteil: mit den Mitteln des Designs entwickeln wir auch in der Mode täglich aufs Neue feine Unterschiede, wie der Soziologe Pierre Bourdieu schon vor 50 Jahren bemerkt hat. Manchmal geht es aber unserer modernen Gesellschaft gar nicht ums fein Differenzierte, sondern ums grob Offensichtliche. So zum Beispiel bei der gestreiften Sträflingskleidung. Sie zählt zu den Relikten der vormodernen Gesellschaft. Häftlinge müssen Uniformen nicht nur deshalb tragen, damit sie im Falle eines Ausbruchs sofort erkannt werden können. Ihr Signalcharakter enthält auch eine offensichtliche Abgrenzung von jeder zivilen Kleidung. Diese Stigmatisierung nimmt den Verurteilten ihre Individualität. Es ist ein unübersehbares Symbol für den Verlust persönlicher Freiheit – und darum ein materieller, sichtbarer und fühlbarer Bestandteil der Bestrafung. Wer diese Kleidung trägt, ist der Kontrolle einer staatlichen Institution unterworfen. Deshalb entstehen Häftlingsuniformen mit dem Erstarken der zentralen Staatsgewalten. Im 18. Jahrhundert tragen Häftlinge in Australien Jacken mit einem Muster aus gelben und schwarzen Rauten. Wenn wir eine solche heute auf der Straße sähen, hielten wir sie für das Kostüm eines Clowns. Die berüchtigten schwarz-weißen Streifen tauchen in nordamerikanischen Gefängnissen im frühen 19. Jahrhundert auf. Im Laufe des Bürgerkriegs verbreitet sich diese Kleidung im ganzen Land. Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts jedoch setzt ein Umdenken in der US-Gesellschaft ein. 1904 schafft die oberste Gefängnisbehörde von New York die Zebrastreifen ab, weil die Streifen eine gnadenlose Haltung gegenüber den Verurteilten verkörpern. Seit 1914 tragen Häftlinge von Bundesgefängnissen keine Streifen mehr, bei einzelnen Bundesstaaten wie Florida dauert es weitere 20 Jahre. Gestreifte Häftlingskleidung ist danach zum Inbegriff des Grausamsten geworden, dessen die moderne Gesellschaft fähig ist. Denn ab 1938 mussten die Insassen der Konzentrationslager längsgestreifte Kleidung tragen. Dieses Muster ist seither ein unauslöschliches visuelles Kennzeichen des industriellen Massenmordes. Um so unverständlicher ist es, daß seit 15 Jahren wieder einige von der Bevölkerung gewählte Sheriffs in den USA ihren Häftlingen gestreifte Kleidung verordnen: In Maine, Mississippi, Indiana, Massachusetts, Missouri, Nebraska und Florida. Als Gründe sind die selben wie vor 100 Jahren angegeben: Weil die Häftlinge außerhalb der Gefängnisse arbeiten, müssten sie schnell als Häftlinge erkannt werden. Aber niemand zweifelt, dass es vielmehr darum geht, die Verurteilten zu erniedrigen. Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.
Publikation # [227]
Kleider machen Leute. Daran hat die Moderne nichts geändert. Ganz im Gegenteil: mit den Mitteln des Designs entwickeln wir auch in der Mode täglich aufs Neue feine Unterschiede, wie der Soziologe Pierre Bourdieu schon vor 50 Jahren bemerkt hat. Manchmal geht es aber unserer modernen Gesellschaft gar nicht ums fein Differenzierte, sondern ums grob Offensichtliche. So zum Beispiel bei der gestreiften Sträflingskleidung. Sie zählt zu den Relikten der vormodernen Gesellschaft. Häftlinge müssen Uniformen nicht nur deshalb tragen, damit sie im Falle eines Ausbruchs sofort erkannt werden können. Ihr Signalcharakter enthält auch eine offensichtliche Abgrenzung von jeder zivilen Kleidung. Diese Stigmatisierung nimmt den Verurteilten ihre Individualität. Es ist ein unübersehbares Symbol für den Verlust persönlicher Freiheit – und darum ein materieller, sichtbarer und fühlbarer Bestandteil der Bestrafung. Wer diese Kleidung trägt, ist der Kontrolle einer staatlichen Institution unterworfen. Deshalb entstehen Häftlingsuniformen mit dem Erstarken der zentralen Staatsgewalten. Im 18. Jahrhundert tragen Häftlinge in Australien Jacken mit einem Muster aus gelben und schwarzen Rauten. Wenn wir eine solche heute auf der Straße sähen, hielten wir sie für das Kostüm eines Clowns. Die berüchtigten schwarz-weißen Streifen tauchen in nordamerikanischen Gefängnissen im frühen 19. Jahrhundert auf. Im Laufe des Bürgerkriegs verbreitet sich diese Kleidung im ganzen Land. Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts jedoch setzt ein Umdenken in der US-Gesellschaft ein. 1904 schafft die oberste Gefängnisbehörde von New York die Zebrastreifen ab, weil die Streifen eine gnadenlose Haltung gegenüber den Verurteilten verkörpern. Seit 1914 tragen Häftlinge von Bundesgefängnissen keine Streifen mehr, bei einzelnen Bundesstaaten wie Florida dauert es weitere 20 Jahre. Gestreifte Häftlingskleidung ist danach zum Inbegriff des Grausamsten geworden, dessen die moderne Gesellschaft fähig ist. Denn ab 1938 mussten die Insassen der Konzentrationslager längsgestreifte Kleidung tragen. Dieses Muster ist seither ein unauslöschliches visuelles Kennzeichen des industriellen Massenmordes. Um so unverständlicher ist es, daß seit 15 Jahren wieder einige von der Bevölkerung gewählte Sheriffs in den USA ihren Häftlingen gestreifte Kleidung verordnen: In Maine, Mississippi, Indiana, Massachusetts, Missouri, Nebraska und Florida. Als Gründe sind die selben wie vor 100 Jahren angegeben: Weil die Häftlinge außerhalb der Gefängnisse arbeiten, müssten sie schnell als Häftlinge erkannt werden. Aber niemand zweifelt, dass es vielmehr darum geht, die Verurteilten zu erniedrigen. Wenn Sie zu dieser Publikation eine Frage haben oder mehr wissen möchten, können Sie mir gerne eine E-Mail senden.